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Die Aufnahmeprüfung

Die Aufnahmeprüfung

Schweißnasse Hände, trockener Hals, zitternde Finger. Der rechte Arm umklammert einen Stapel Noten, die linke Hand hält sich am Taschentuch fest. Einen Schluck trinken, die Kleidung richten, tief Durchatmen, die Umwelt ausblenden. Nochmal aufs Klo, oder lieber ein letzter Blick in die Noten?  

 

Normalerweise steht die schwierigste Prüfung am Ende. Am Ende der Schulzeit, der Ausbildung, des Studiums; Mittlere Reife, Abitur, Staatsexamen, Gesellenprüfung. Deswegen heißt sie auch Abschlussprüfung. Im Musikstudium ist das anders, hier lauert die schwierigste Prüfung am Anfang: Die Aufnahmeprüfung. Sie wird, ganz unverblümt, auch „Eignungsprüfung“ genannt. Ob ein Bewerber geeignet ist, entscheidet eine Kommission aus Professoren, die heute noch dreißig andere Pianisten hören wird, so wie auch morgen und übermorgen. Hundert bis zweihundert sind es Jahr für Jahr pro Hochschule. Sie kommen aus der ganzen Welt, weil das Musikstudium in Deutschland sehr renommiert und kostenlos ist. Die Zahl der Studienplätze kann ich mir an zwei Händen abzählen. Einen davon will ich.

 

Ein Blick auf die Tür, Lauschen. Hört man von drinnen noch Klavierspiel? Bewegt sich die Türklinke? Jeden Moment kann es soweit sein. Der Zeitplan stimmt längst nicht mehr, schon zwanzig Minuten Verzögerung. Es ist ein Tag des Wartens. Gerangel um einen guten Zeitslot morgens um Acht. Nicht zu früh, nicht erst abends, nicht im Mittagstief. Dann warten auf einen Einspielraum, warten bis zur Prüfungszeit, aber bitte dreißig Minuten vorher da sein, falls jemand ausfällt. Warten vor der Tür. Warten, bis die Chopinetüde zu Ende ist. Mein Vorgänger spielt sie viel schneller als ich! Schon beim Schreiben dieser Zeilen beschleunigt sich mein Puls, und leichte Aufregung macht sich in der Körpermitte breit, obwohl ich all das längst hinter mir habe, nun, wo ich darüber schreibe.  

 

Alles nach der Aufnahmeprüfung wird leichter werden. Zwischenprüfung, Kammermusikprüfung, Neue Musik-Prüfung, Abschlussprüfung. Wer einmal drin ist, ist drin. Durch spätere Vorspiel-Prüfungen fällt man normalerweise nicht mehr durch, hier geht es eher um die Kommastelle hinter der Eins. Ausgesiebt wurde bereits vorher. Wenn doch mal jemand nicht besteht, dann eher in Musikgeschichte oder Gehörbildung, und die kann man wiederholen. Ich kenne niemanden, der je durch die Abschlussprüfung seines instrumentalen Hauptfachs gefallen ist.

 

Die Tür geht auf, Adrenalinschub. Kurzer Blick auf den Bewerber vor mir. Erleichterung, Freude, Enttäuschung, Verunsicherung? Manchmal wird man von einem freundlichen Professor an der Tür abgeholt, das ist schön. Manchmal sitzt die Kommission so weit hinten, dass man kaum die Gesichter erkennt und sich fühlt wie in der Fleischbeschau. Spartanische Begrüßungsfloskel. Wohin mit meinen Händen? Verbeugen oder nicht? „Das erste Stück können Sie sich aussuchen.“ Das war zu erwarten. Ich wähle Mozart, habe ich mir schon vor Wochen überlegt.

 

Die nächsten zehn Minuten entscheiden über mein zukünftiges Leben. So fühlt es sich zumindest an. Monatelang habe ich die Prüfungsstücke vorbereitet, zehn, fünfzehn Jahre Instrumentalunterricht und tägliches Üben gehen einer Hochschulbewerbung voraus. Aber jetzt hängt alles an diesem kurzen Moment. Es gibt nur eine Chance. Ich muss genau jetzt hundert Prozent geben und funktionieren, überzeugen, Potential zeigen, Interesse wecken, mich von der Masse abheben. Nicht einmal Abitur ist zwingend erforderlich; wer die Kommission von sich überzeugt, bekommt den Platz.

 

Die Prüfung ist zu Ende. Waren das wirklich zehn Minuten? Die Zeit hat nicht ausgereicht, um mein angestautes Adrenalin abzubauen. Etwas verloren stehe ich vor der Hochschule und weiß nicht, wohin mit mir. War es klug, nichts Schwarzes anzuziehen wie die meisten anderen? Mozart ist gelungen, abgesehen von einem kleinen Wackler am Anfang. Bach klappte zufriedenstellend, aber teilen sie auch meine Interpretation? Die Etüde wollten sie gar nicht hören, ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

 

Nun heißt es warten, ob ich eine Eintrittskarte in die lang ersehnte Musikhochschule erhalte. Einen Einblick in die Parallelwelt, Zutritt zum Elfenbeinturm, Mitgliedsstatus in einem ganz speziellen Zirkel. Es geht um große Kunst und große Schieberei, Höhenflüge und Enttäuschungen, tiefste Empfindung und eine Arbeitswelt der Ausnutzung. Mit besonderen Freundschaften, Missgunst und Wettbewerb, persönlichem Wachstum und einem ungewöhnlichen Lebensgefühl. Es geht um ein Leben als klassischer Musiker. Davon handelt dieser Blog.

 

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