3 Mein Lehrer Mr. Rose

Dieser Eintrag ist meinem Lehrer und seinem Unterricht gewidmet. Es geht unter anderem um die Frage, was ich überhaupt noch lernen kann, wie man bei J. Rose zur Selbstständigkeit "gezwungen" ist, dass auch er nicht alles kann und manchmal ein bisschen faul ist, seine Prioritäten, Unterrichtsweise und Unterschiede zu meinen früheren Lehrern, seine philosophischen Lebensweisheiten - und seine ganz speziellen Heiratstipps.

Es ist dringend an der Zeit, dass ich ausführlich über meinen Klavierprofessor berichte. Seinen vollständigen Namen nenne ich in diesem Blogeintrag lieber nicht, meine persönliche Meinung geht Google nämlich gar nichts an, bleiben wir mal bei "Rose".

Ich werde immer wieder gefragt, "wie er denn so ist", wie er unterrichtet und ob ich etwas lerne. Vielleicht kann man meine bisherigen Lernerfolge so zusammenfassen: In Würzburg habe ich üerhaupt ers richtig Klavierspielen gelernt, in Sankt Petersburg legato und gesanglich spielen, in New York piano spielen und sehr exakten Rhythmus.

 

Was kann ich denn überhaupt noch verbessern und lernen bei meinem Klavierspiel?

Da gibt es durchaus ziemlich viel. Es geht immer und immer und immer darum, genauer zu lesen, zu hören, zu denken und zu beabsichtigen. Das heißt, eine ganz klare Vorstellung zu entwickeln vom Stück und wie man es umsetzen möchte. Klavier spielen ist wie malen. Wie kann ein Maler auch nur den ersten Strich machen, wenn er nicht eine Vorstellung hat, wie dieser Strich in sein Bild passen soll? Ohne diese Vorstellung wäre es ein zufälliger Strich oder ein experimenteller Strich, der sich vielleicht gut ins Bild einfügen wird, vielleicht auch nicht. So ist es auch mit den Tönen in einem Musikstück. Der Maler muss auch bei jedem kleinen Pünktchen die ganze Zeit das große Bild im Blick und im Kopf haben. Das Gesamtgefüge muss stimmig und rund sein, eine Richtung haben, die Perspektive oder das Verhältnis muss passen, und doch ist jedes kleinste Detail entscheidend. So ist es auch in einem Klavierstück. 

 

Wenn man in einem misslungenen Bild hier eine Farbe erhellt und da eine Kontur verstärkt, wird es deshalb nicht unbedingt ein besseres Kunstwerk. Selbst wenn man jedes Detail ideal anpassen würde, hätte man einen schön zusammengefügten Scherbenhaufen vor sich. Es geht also um mehr als nur das bloße justieren von Details, in der Kunst wie in der Musik. Aber wie soll man so etwas unterrichten?

 

Der Unterricht in Würzburg

In Würzburg habe ich zum ersten Mal das Handwerkszeug zum wirklich professionellen Klavierspielen gezeigt bekommen und mir erarbeitet. Das beinhaltet zum Beispiel: Wie übt man effektiv, wie sieht ein guter Fingersatz aus und wie findet man ihn, wie liest man richtig in den Noten (und übersieht nicht die Hälfte), wie benutzt man die Pedale ordentlich, wie spielt man knackiges Staccato, gesangliches Legato und alles dazwischen, wie schafft man eine Abstufung der Lautstärke in verschiedenen Stimmen gleichzeitig, wie spielt man kräftiges, aber nicht knallendes Forte und leises, aber tragendes Piano? Was macht eine stabile, aber durchlässige Hand aus, woher kommt die Kraft, wie verwendet man die Arme? Ganz zu schweigen von - was möchte man sagen mit einem Stück, wie entwicklt man überhaupt eine Absicht und woher weiß man, was man will und wollen soll? Wie geht man auf die Bühne und verlässt sie wieder, ohne wie ein dressierter Affe auszusehen (und sich auch so zu fühlen...)?

 

Viele Jahre sah der Unterricht so aus: Anne spielt das Stück vor. Danach gehen wir das Stück Takt für Takt, Note für Note von vorne bis hinten durch und richten, was zu richten ist. Wenn etwas nicht gut klingt, schauen wir, warum: Unkluger Fingersatz, schlechte Armbewegung, zu wenig Stabilität, zu wenig Flexibilität. Dynamik nicht beachtet, Artikulation (Staccato und so) nicht deutlich genug, Crescendo klingt mechanisch, der Spannungsbogen fehlt. Ich habe drei Notitzbücher mit Hinweisen zu Stücken  gefüllt, die ich in der folgenden Woche versucht habe einzubauen. Danach: Nächste Schicht drauf. Bis langsam ein anhörbares Musikstück daraus wird.

Im nächsten Stück dann das Gelernte bitte anwenden und neue Fähigkeiten dazulernen. Mit den Jahren wurden die "ersten Male" an technischen, klanglichen und interpretatorischen Herausforderungen weniger und das Vorspielniveau im Unterricht höher, so dass die zeitintensive Detailarbeit weniger wurde. Die grundlegenden Maltechniken waren jetzt klar.

Grundsätzlich habe ich mit meiner Professorin in Würzburg sehr viel über Details nachgedacht, Feinarbeit geleistet, ausprobiert, verworfen und mit ihr zusammen geübt. Es kam vor, dass wir uns eine Stunde mit wenigen Takten aufhielten. Es war ganz ungewohnt, als irgendwann plötzlich der Fall eintrat, dass sie mir anbot, ein paar Hinweise zu einem Stück zu geben - oder auch nicht. Meine Interpretation sei möglich und schön, und ihre Verbesserungs- oder Änderungsvorschläge optional.

Der Lernprozess eines Stückes führte immer zum Ziel des Vorspielens. Zunächst im internen Klassenvorspiel, dann im internen Hochschulvorspiel, dann im öffentlichen Hochschulkonzert, dann möglicherweise in Konzerten außerhalb der Hochschule. Dafür gab es sowas wie ein inoffizielles Prädikat "jetzt ist das Stück dafür gut genug" versus "lieber noch nicht".

 

Bei Rose ist vieles ganz anders.

Ich habe den Eindruck, hier viel selbstständiger und vollständiger zu arbeiten und arbeiten zu müssen. Wenn jemand beim Spielen dauernd Gedächtnislücken oder spieltechnische Probleme hat, kann der Meister mit dem Schüler nichts anfangen. Dann sagt er: You have to practice it, ok? Mit einem unfertigen Stück weiß er nichts anzufangen. Technische Probleme werden nicht oder kaum erörtert, jedenfalls nicht in meinem Unterricht. Es geht nur um den Klang und das Ergebnis - was natürlich mit der technischen Ausführung auch zusammenhängt. Er erklärt dann, in seinem Schaukelstuhl sitzend, wie es klingen soll. Wenn man nicht weiß, wie man das macht, sagt er es nochmal ein bisschen lauter, und dann nochmal etwas lauter, und wenn man es nicht kann - tja, ich weiß auch nicht. Zu diesem Gau ist es in meinem Unterricht zum Glück noch nicht gekommen. Irgendwann resigniert er und lässt einen weiterspielen.

 

Puzzeln ist nicht so seins

Es ist aber nicht so sein Ding, ein Stück in seine Einzelteile zu zerlegen. Ich schrieb ja schon von einer beobachteten Klavierstunde, bei dem ein unwissender Jungsporn in Tränen ausbrach, weil Rose zu grob mit ihm umging. Den hätte man an die Hand nehmen und ihm jeden Ton erklären müssen. Genau das, was man mit mir auch gemacht hat, mit viel Geduld und noch mehr Geduld. Rose sagte aber sehr klar und deutlich, dass er dafür weder Zeit noch Lust hat, und gab ihm eine Telefonnummer. Überhaupt hängt der Unterricht oft von der Verfassung des Lehrers ab.  "You want to make me work today?", sagt er, wenn ich ein anspruchsvolles Stück mitnehme. Als er mich  bei einem Klavierkonzert begleiten sollte, beschwerte er sich, das sei ja anstrengend. Ich sagte, klar, aber er sei ja schließlich Pianist. Natürlich hat er mich dann begleitet. Manchmal weiß er nichts zu sagen oder will vielmehr nicht, dann fragt er nach dem gespielten Stück, ob man es nochmal spielen möchte und anschließend, was man sonst noch dabei hat.

 

It's hard as hell - gut, dass wir das auch geklärt haben.

Wenn wir richtig an einem Stück arbeiten, geht es zum einen um den generellen Gestus. Wie soll Ravel klingen? Welche (musikalischen) Vorbilder - zum Beispiel Instrumente, Gesang, Orchester, ein Tanz, eine Laune, ein Charakter - gibt es? Vor allem: Tut man auch wirklich genau das, was der Komponist in die Noten geschrieben hat? Jede Dynamik und Artikulation? Nein? Dann aber Hallo! Meistens ist ihm alles zu laut. Es kümmert ihn nicht, wenn es schwierig ist, im dreifachen Pianissimo dreistimmige Sechzehntel zu spielen. Dann sagt er nur "I'm sorry, I know, it's hard as hell!" oder "I'm glad I don't have to practice it" oder "You have to kill yourself [and practice hard to make it the most beautiful possible]!"

Natürlich arbeiten wir auch beispielhaft an Details in Stücken. Es gibt Verbesserungsvorschläge, Ideen, Korrekturen, Hinweise, Berichtigungen. Meistens sagt er in bedeutungsschwerem Ton, nachdem er versucht hat mich von einer Idee zu überzeugen, die konträr zu seiner ist: "I am not wrong." Wenn man will, kann man seinen Vorschlag noch ausprobieren und sich gegebenenfalls korrigieren lassen, oder auch nicht, dann merkt man es sich und probiert es später allein. Das gemeinsame Üben fällt weniger umfangreich aus, deshalb kommt man auch mit der kurzen Unterrichtsdauer von nur 60 Minuten ganz gut hin.

 

Bequemlichkeiten

Wenn ich im Unterricht von anderen zuhöre und die Stücke spielen, die ich sehr gut kenne, fällt mir oft auf, dass Rose viele Dinge nicht anspricht, die mich stören - beziehungsweise sie vielleicht anspricht, aber nicht auf ihre 100%ige Umsetzung beharrt. Er erzählte mir mal, als es ums Telefonieren ging: "I always call only once." Übersetzt also: Wenn man bei seinem einzigen Anruf nicht ans Telefon geht - Pech gehabt. Vielleicht ist es auch im Unterricht so. Er macht sich nicht die Mühe, jeden bei der Hand zu nehmen und da draufzudrücken, wo es weh tut. Wenn man seine Hinweise nicht genau genug befolgt oder sie nicht versteht - Pech gehabt. Rose fängt mit seinem Unterricht eben da an, wo andere aufhören, ziemlich weit oben nämlich. Das weiß er auch sehr genau und ist sehr stolz darauf. Manchmal verändern tatsächlich wenige Worte und Hinweise die ganze Sicht auf ein Stück der legen einen Schalter um. Nach manchen Stunden habe ich hingegen das Gefühl, nicht viel gelernt zu haben. Ich bin froh, dass ich nicht als jüngere Studentin zu ihm gekommen bin, denn das Grundhandwerkszeug hätte er mir nicht beibringen können. Hier geht es eher um den Feinschliff.

 

Rose spielt wenig vor. Vorspielen ist schließlich anstrengend, außerdem lässt er recht unmissverständlich durchblicken, dass er nicht mehr ganz auf seinem pianistischen Hochpunkt steht (was man angesichts seines Alters nur anerkennend vermuten kann), und das wurmt ihn ungemein. Der Schüler muss aus seinen Worten verstehen was er meint, und bereits über eine so gut ausgebildete Klangvorstellung verfügen, dass er das umsetzen kann. Übrigens auch über das entsprechende englische Fachvokabular, woran es leider bei einigen schon scheitert. Die sagen dann nur "jaja" und wiederholen nochmal das Gleiche.

Wenn man es nicht kapiert, geht Rose doch zum Flügel und spielt. Sitzt er dort erst einmal, kriegt man ihn nicht mehr so leicht wieder weg. Er fängt dann nämlich an, die Stelle zu üben, bis er zufrieden ist und er demonstrieren kann, was er demonstrieren will. Hin und wieder deutet er auch nur an und spielt mehr falsche Töne als richtige, und sonderbarer Weise versteht man trotzdem was er meint und es klingt unter Umständen noch besser als bei einem selbst. Fehler sind also nicht so wichtig.

 

Leiser! Richtiger! Zählen!

Neben der Tonqualität und dem Pianissimo beharrt Rose vor allem auf ein gutes Zeitgefühl - also Takt, Tempo und besonders Rhythmus. Ein Rhythmus ist noch lange nicht richtig, wenn man das Metronom dazu laufen lassen kann. Er muss verstanden und ausdrucksvoll sein, internalisiert also und nicht nur reproduziert. Da kann es schon einmal passieren, dass man den Rhythmus scheinbar korrekt spielt und er einen anblökt, dass die Triolen aber falsch seien. Und natürlich hat er Recht, wie (fast) immer. Wie bitte, man kann bei kompliziertem Rhythmus in beiden Händen nicht noch laut dazu mitzählen? Dann aber üben, los! Ich gebe zu - das hilft tatsächlich! Schon allein, weil man die Stelle so gut können muss, dass man auch noch Konzentration für's Zählen erübrigen kann. Außerdem verinnerlicht man dann die Zählzeiten und ihre Rolle im Stück noch einmal auf andere Weise, was besonders beim Zusammenspiel mit anderen Instrumenten (also Klavierkonzerten oder Kammermusik) essentiell ist.

 

Eine kontinuierliche Arbeit an einem Stück gibt es nicht wirklich, es sei denn, der Student bringt das Stück jede Stunde mit. Ein kurzes Stück von Couperin spielte ich einmal vor - null Kommentar. Ein paar Tage später schickte ich ihm noch ein Video davon, was er mit einem "Brava" per Mail kommentierte. In einer Klavierstunde ein paar Wochen danach wollte ich das Stück noch einmal vorspielen. Seine Reaktion: Spiel etwas anderes, das hab ich doch schon gehört, das war gut, dafür brauchst du mich nicht. Achso, ja dann... Ein internes Klassenvorspiel und Klassenabende gibt es leider nicht. Vielleicht kann ich nochmal vorsichtig nachfragen, ob wir sowas machen könnten. Schließlich muss man auch das Vorspielen üben.

 

Die multilinguale Plaudertasche

Rose ist im Unterricht unterschiedlich gelaunt - manchmal sehr geduldig und freundlich, manchmal weniger geduldig und aufbrausend. Das schüchtert die jungen Asiatinnen, die des Englischen nur zu 5% mächtig sind, oft ein. Inzwischen habe ich aber gemerkt: Das ist nicht böse gemeint, sondern halb unfreiwilliger Charakter und halb beabsichtigter Druckaufbau. Ein Lehrer ist ja nicht dazu da, Kuschelatmosphäre zu schaffen, sondern einen zum Arbeiten anzuhalten (frei übersetzt). Damit hat er wohl auch irgendwie recht. Im Grunde ist Rose aber ein netter und freundlicher Mensch.

 

Zu Beginn meines Unterrichts sprechen wir manchmal ein bisschen Deutsch, das ist sehr komisch für mich. Auf Deutsch klingt Rose viel weniger selbstsicher und autoritär, außerdem weiß ich da plötzlich nicht mehr, wie ich mich ausdrücken soll. Man gewöhnt sich an eine Umgangssprache mit einer Person, und wenn die sich ändert fühlt sich das merkwürdig an. Meistens wechselt Rose dann auch recht schnell wieder zum Englischen. Generell hört er sich wahnsinnig gerne reden und unterhält sich gerne. Was er sagt ist auch meistens spannend. Es geht dann um Geschichte oder Ereignisse aus seinem Leben, darum, was früher alles besser oder weniger gut war, um Musik, Komponisten, Musiker, ehrenwertes Verhalten, Korruption und so weiter. Besonders gerne gibt er Lebensratschläge, vor allem zur Zwischenmenschlichkeit und zum Heiraten.

Er sagte mir mal, ich solle bloß keinen langweiligen Geschäftsmann heiraten. Das würde er manchmal bei den Asiatinnen beobachten, aber die würden dann unglücklich. Weil man sich ja ungern mit einem stummen Blumensträußchen unterhält, gebe ich dann auch immer gehaltvolle Antworten, wie z.B. "Fällt mir ja gar nicht ein", und dann fällt ihm auch wieder ein, dass ich ja nicht 19 bin und das Heiratsverständnis in Europa auch ein bisschen anders. Gleichzeitig rät er manchmal auch noch dazu, reich zu heiraten. Also was nun, einen reichen Musiker? Der hat Wünsche...

Vor kurzem schrieb er mir in einer Mail, ich solle einen aus Deutschland eingeflogenen Kurzzeitschüler in die Uni einschleusen, damit er dort üben kann. "By the way, er ist groß und schön". Der Eindruck hat sich leider nicht ganz bestätigt, zu dem ist der Typ vier Jahre jünger als ich. Aber vielen Dank für die Bemühungen.

 

Kritik, Lob und Zuspruch

Ich finde, Rose lobt verhältnismäßig viel dafür, dass er sich wie ein "alter Meister" verhält. Jedenfalls hätte ich weniger Lob erwartet. Zwar überschüttet er einen nicht damit, wie in der deutschen Ermutigungsgspädagogik, aber in letzter Zeit habe ich viele positive Kommentare zu meinem Klavierspiel gehört. Ob ich seit meiner Ankunft besser spiele oder er mich nur mehr schätzt als früher, weiß ich auch nicht so genau. Sicher habe ich mir aber einen gewissen Respekt verdient durch gewisse Erfolge, mit denen ich ihn überrascht habe, wie zum Beispiel den Stipendiengewinn, das Einstudieren der Paganini-Variationen von Rachmaninov, den Artikeln bei PianoNews oder meiner CD-Aufnahme im Sommer (dazu demnächst mehr). Rose weiß ganz genau: Was man nicht selbst in die Hand nimmt, passiert nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied. Die Welt hat nicht auf dich gewartet.

 

Trotz vielen Tadels und kritischer Worte, die er immer sehr ehrlich und manchmal etwas ungefiltert äußert, kann Rose einen auch sehr aufbauen und Mut machen. Besonders, wenn es um das eigene Selbstwertgefühl als Musiker geht, im allgemeinen Musikbetrieb oder Wettbewerben. Man soll sein Lebensglück um Gottes Willen nicht von der Wertung einer korrupten Wettbewerbsjury abhängig machen, die einen nicht kennt und ihren eigenen Geschmack hat - schließlich lässt man ja nicht mal die eigenen Eltern über seine Zukunft entscheiden! Wenn man ihn fragt, welche Stücke man spielen soll, sagt er: "Play what you play better than anyone else in the world!" Also - spiele deine Glanz-Stücke.

 

Schön, schön.

Vor allem soll man schön spielen. Eine Jury möchte nicht bewerten, sondern einfach nur ein schönes Konzert erleben. Er muss es wissen, er sitzt schließlich dauernd in irgendwelchen Jurys. Schön, schön, schön muss es sein. Für "Neue Musik" hat er deshalb auch überhaupt nichts übrig. Es gibt ja Musik, die nicht durch unmittelbare Süße schön ist, wie ein Gemälde von Van Gogh, sondern auf andere Weise Kunst darstellt, wie eine moderne Installation. Oder Musik, deren prägender Eindruck nicht durch die schönen Melodien zustande kommt, sondern durch die besondere Atmosphäre, die durch undefinierbare Klänge geschaffen wird. Aber dafür hat Rose kein Ohr. Er sagt: "Was soll ich mit Musik, wenn ich mich nach dem Konzert an keine einzige Melodie erinnern kann? Eine Musik braucht schöne Melodien." Ich nicke brav und spare mir meine Erklärung. Meiner Meinung nach liegt der Wert der Musik nicht allein in der Schönheit einer Melodie und Harmonie. Experimentelles Musizieren kann sehr viel Spaß machen und schult zum Beispiel das freie, weil nicht fehlerbelastete Spielen und kann in anderer Weise extrem packend und berührend sein, aber diesen Exkurs spare ich mir jetzt :-) Sein konservativer Kurs ist ihm übrigens durchaus bewusst, aber er ist einfach so.

 

Eine befreundete Klavierlehrerin hat mir eine Liste mit Fragen über Roses Unterricht geschickt.

 

Was sind seine Prioritäten?

Schönes, authentisches, werksgetreues, abwechslungsreiches Musizieren. Vor allem Klassik und Romantik.

 

Wie findest du ihn als Mensch und Musiker?

Er ist ein sehr stolzer Mensch, der genau weiß, wie einflussreich er ist und was er in seinem Leben erreicht hat. Gleichzeitig braucht er aber auch weiterhin eine Bestätigung, dass es so ist. Er hat ein sehr breites Wissen und ist gebildet in verschiedenen Gebieten. Die Unterhaltungen mit ihm sind informativ bis amüsant, aber meistens redet er und kann nicht besonders gut zuhören, fällt einem oft ins Wort oder vergisst Dinge.

Er ist ein echter Herzensmusiker mit sehr wahren und guten Ideen und seine Interpretationen sind bemerkenswert. Manchmal schlägt er für meinen Geschmack etwas zu sehr aufs Klavier ein, aber das tut er meistens nur im Unterricht, wohl als Produkt seiner aufbrausenden Art. Wenn er wirklich musiziert ist mir das noch nicht aufgefallen.

 

Wie erarbeitet er mit dir etwas?

Meistens durch Worte, die ich dann in Musik umsetze, wie oben schon beschrieben. Exemplarisch und punktuell am Detail, wobei wir manchmal schon das ganze Stück durchgehen. Aber wir fangen nicht bei Adam und Eva an. Das bringt man schon mit - oder eben nicht.

 

Wie gelingt es ihm, dass du hörst, was er hört und welche Tipps etc. gibt er zur Umsetzung?

Manchmal, selten gibt er schon technische Tipps, zu Fingersätzen oder Armbewegungen. Aber das ist die Ausnahme und auch nicht immer unmittelbar hilfreich. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass ich meine ganze Technik umkrempeln müsste - dennoch regt es mich aber zu einem Umdenken an betreffender Stelle an und ich probiere andere Ansätze aus. Falls sein konkreter Tipp nicht das Richtige für mich war, hilft es mittelbar also trotzdem, indem er auf das zeigt, was nicht gestimmt hat.

Dass ich höre, was er hört - das kann ich gar nicht genau sagen. Er beschreibt es direkt und indirekt mit Worten und Beispielen, dann versuche ich es, und wenn es noch nicht gut ist, erklärt er es nochmal, beharrt auf Verstärkung des Effekts, benutzt andere Worte oder demonstriert es selbst am Klavier. Manchmal verstehe ich seine Idee nicht beim ersten Mal, aber meistens komme ich schon dahinter, was er meint. Das merke ich ja auch an seiner Reaktion.

 

Wie ist er im Kontrast zu deiner Lehrerin, auch zu deiner russischen?

Den Kontrast zu meiner deutschen Lehrerin habe ich ja schon oben beschrieben: Weniger Grundlagen, weniger Details, weniger Geduld. Meine russische Lehrerin war inhaltlich eher wie meine deutsche, wenn auch nicht ganz so genau, mit etwas anderen Ansätzen und Schwerpunkten (Legaaaato - ihr erinnert euch?) und natürlich anderem Charakter. Grundsätzlich hat sie auch noch mehr am Detail gearbeitet und mich mehr und länger an die Hand genommen. Außerdem war sie am beleidigtsten, wenn man ihre Vorschläge nicht angenommen hat.

Wobei ich natürlich einfach nicht sagen kann, wie sie mich jetzt unterrichten würde oder wie Rose mich vor fünf Jahren unterrichtet hätte. Ich denke aber, dass die Art des Unterrichtens immer irgendwie ähnlich ist. Vermutlich würde meine russische Lehrerin nach wie vor jeden Ton umdrehen, der ihr persönlich nicht in den Kram passt.

 

Ist er demokratisch oder gibt er vor, was zu tun ist?

Irgendwie stimmt beides. Einerseits sagt er manchmal, dass ich etwas entscheiden kann, andererseits sagt er auch oft "I am not wrong" oder beharrt auf der Richtigkeit seiner Meinung. Er ist schon sehr überzeugt davon, dass er richtig liegt, was auch meistens der Fall ist. Da ich Stücke ja nicht so oft vorspiele, merkt er nur bedingt, wenn ich meinen eigenen Weg gehe, und wenn ich eine Ansicht wirklich verteidigen möchte, wird er das sicher auch erlauben. Da er nicht jedes Stück von Grund mit dem Schüler aufbaut, sondern an dem fertigen "Ding" herumschraubt, bleibt sowieso etwas mehr Eigeninterpretation übrig als wenn man mit einem Studienanfänger alles ganz genau plant.

 

Kommt ihr gut miteinander aus?

Ja, kommen wir! Er freut sich, dass ich mich mit ihm flüssig unterhalten kann, eine Meinung habe, die ich auch äußere und findet es interessant, eine europäische Schülerin zu haben.

 

Ist er und seine Arbeit eine Bereicherung für dich?

Ja, das ist es auf jeden Fall. Manchmal frage ich mich, ob es besser wäre, nochmals einen Lehrer zu haben, der mir mehr Dinge vorgibt und genauer erklärt, zum Beispiel zu technischen Dingen. Jemand, der mich im Ist-Zustand sieht und eine genaue Idee und einen Plan hat, wie und mit welchen Stücken und Übungen ich die Studienzeit am besten füllen sollte, um maximalen Fortschritt zu erzielen.

Andererseits wird der Tag kommen, an dem ich keinen Klavierlehrer mehr habe, der mir das sagt, und mit dieser Art des Unterrichts werde ich bestens auf das selbstständige Arbeiten vorbereitet. Ich sehe mich ja nicht im direkten Vergleich zu letztem Juli, denke aber, dass ich schon Fortschritte gemacht habe. Auch unabhängig von Roses Unterricht habe ich hier in den USA wahnsinnig viel gelernt und erfahren.

 

Wie hat sich dein Klavierspiel und deine Sicht auf Musik durch die Arbeit mit ihm verändert?

Rose versteht es prima einen dazu anzustacheln, das Beste aus sich herauszuholen und nur damit zufrieden zu sein. Dieses Beste wird dann zur neuen Basis, auf die man weiter aufbaut. Diese Einstellung habe ich einmal mehr in mir aufgesogen. Rein pianistisch habe ich sicher an Klangausdruck gewonnen (vor allem Pianissimo, wie gesagt). Genauer kann ich es gerade gar nicht sagen.

 

Für weitere Fragen stehe ich gerne zur Verfügung!

Beste Grüße aus NYC!


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Kommentare: 4
  • #1

    Wolfgang (Donnerstag, 28 April 2016)

    Hallo Anne,
    Wieder einmal ein sehr anschaulicher Bericht. Ich kann mir vorstellen, daß es auch für Deinen Lehrer spannend und reizvoll ist, mit jemandem zu arbeiten, der nicht nur "Ja ja" sagt und brav mit dem Kopf nickt. Für irgendetwas muß ja auch die europäische Erziehung und Ausbildung gut sein. Mach weiter so! Du bist auf dem richtigen Weg.
    Liebe Grüße

  • #2

    Hartwig (Donnerstag, 28 April 2016 17:03)

    Hallo Anne,
    danke für die Schilderung an Einblicken, die Du mit Deinem Lehrer bekommst und uns nun hier vermitteln konntest. Es ist eine schöne Übersicht zu den unterschiedlichen Aspekten und Erfahrungen während des Studiums von einer schon sehr fortgeschrittenen Pianistin, die so wie Du kritisch und nach Perfektionen sucht. Daher wünsche ich Dir in diesem Bestreben weiterhin viel Erfolge, die wir dann von Dir zu hören bekommen bei Deinen Konzerten.

    Liebe Grüße

  • #3

    fish (Donnerstag, 28 April 2016 18:53)

    Hi Anne, wenn Dich das Klavierspielen mal abnervt, kannst du Dein Geld immer noch mit Schreiben verdienen. Wunderbar beobachtet, sauber analysiert und kurzweilig geschrieben. Ich glaube, dass Du später noch über vieles "stolpern" wirst, was Dir R. alles vermittelt hat. However: Du machst Dein Ding - auch ohne reichen Geschäftsmann!

  • #4

    Bernd B aus K (Freitag, 29 April 2016 14:50)

    Hallo Anne,

    gut geschrieben, gut beobachtet, gut analysiert. Selbst als vollkommen Außenstehender und auf einem gänzlich anderen Level musizierend als Hobbyist kann man Deinen Ausführungen wichtige Impulse für das Hobby entnehmen. Meinen lieben Dank dafür.

    Tolle Idee übrigens, die strukturierten Fragen einer anderen Klavierlehrerein über Mr. Rose als Klavierlehrer zu posten. (Hoffentlich gibt das keinen Ärger...)

    Da ich die von J-J. Eigeldinger von den Schülern Chopins gesammelten Beschreibungen zu Chopin als Mensch und als Lehrer las (und völlig fasziniert in die Möglichkeit geriet, mich in diese Situationen hineinträumen und -versenken zu können), eine weiterführende Frage. Das, was Du beschreibst, das Klavierlehrersein, ist das eigentlich woanders auch noch systematisch beschrieben worden? Ich meine, über das anekdotische hinaus, das man zu lesen bekommt, wenn man über die Weimarer Zeit des alten Liszt mit seiner völlig überlaufenen "Schülerschar" in der Weimarer Hof-Gärtnerei las... Der alte Liszt als Salonlöwe und Groupie-Entertainer, mit Sottisen...

    Schriften über Pianisten als Klavierlehrer? Schüler beschreiben ihre Lehrer? Würde mich, der ich mich des Klavierunterrichts fast durchgehend enthilet, sehr interessieren.

    Und noch eine Frage. ... Die du das Klavierlehren beschreibst, was macht das mit Dir als Mensch, als Pianistin? Bestärkt es Dich in Deinem Wunsch, eines schönen Tages selber Klavierprofessorin zu sein? Oder ist das Tun am Klavier (anstelle des Lehrens) Dir jetzt erstmal näher? Was ist wichtiger? Piano-Kompetenz, oder Pädagogik-Kompetenz?

    In der Pädagogik liegt ja ein altruistisches Motiv... Und auch ein kleines Motiv der Selbstbestätigung: ich kann etwas, und ich kann es nicht nur, ich kann es auch anderen vermitteln....

    Freundliche Grüße über den Teich
    Bernd B