5 Orientation Week - Get ready!

In diesem Blog-Eintrag geht es um die ausführlichste Einführung mit den zahlreichsten Begrüßungen, die ich je erlebt habe, meine persönliche Aufklärung über Tel Aviv, Schwulsein und Counter-Tenöre, in der Lotterie gewonnene Green-Cards, meinen ersten Unterricht bei Jerome Rose (in dessen Folgestunde gleich ein Schüler in Tränen ausgebrochen ist) sowie der Feststellung, dass New York für mich im Moment einem universumsgleichen Joghurt-Regal ähnelt.

Außerdem meine neue Kolumne "Moments of New York" :-)

Manhattan ist kein Apfel, sondern ein Joghurt-Regal! Sicher stand der eine oder andere Leser auch schonmal vor den 100 verschiedenen Sorten im Supermarkt, war völlig überfordert mit der unglaublichen Auswahl und hat sich vorsichtig wieder vom Regal entfernt - ohne Joghurt. Wie soll man sich auch entscheiden? Da gibt es Naturjoghurt, Joghurt mit jeder erdenklichen Frucht und Geschmacksrichtung, mit Schokolade, Crips, Müsli oder Nüssen, in verschiedenen Konsistenzen und mit unterschiedlichem Fettgehalt, im Plastikbecher, Glas oder recyelbarem Plastik-Papp, im 500 Gramm-Sparpack oder 50-Gramm Snack-Pack, mit Vergünstigung, weil das Verfallsdatum bald abläuft, im Angebot der Billigmarke oder teuer aus der Fernsehwerbung. New York ist genauso. Und meine Uni auch. Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten!

Obwohl ich schon zwei Studiengänge abgeschlossen und an zwei Musikhochschulen studiert habe (Würzburg und St. Petersburg), habe ich in der letzten August-Woche zum ersten Mal an einer "Orientation Week" teilgenommen. Jetzt weiß ich auch wofür die fünfstellige Summe an Studiengebühren hergenommen wird, die jedem armen Studenten abgeknöpft wird - man bezahlt davon Willkommens-Partys und Party-Service! Jedenfalls unter anderem.

Zunächst einmal: Wo studiere ich da überhaupt? Ich bin nun Studentin der Privatschule "The New School", das ist eine der vielen Universitäten in New York. Man kann dort 134 verschiedene Abschlüsse in sieben Departments machen, darunter Schauspiel, Liberal Arts (wurde kürzlich zur besten Kunsthochschule der USA gekürt), Jazz und Mannes, die Abteilung für klassische Musik (der Name rührt vom Gründer her). Insgesamt gibt es um die 10.000 Studenten, von denen knapp 30% "international Students" sind, womit diese Uni die höchste Prozentzahl ausländischer Studierender in den ganzen USA aufweist. Es gibt noch andere Superlative - zum Beispiel ist das Studentenwohnheim auch das teuerste der USA, was wohl daran liegt, dass es sich auf einem der Uni-Gebäude befindet, welches erstens brandneu ist und zweitens an der 5th Avenue liegt. Die 5th Avenue in New York ist eine der berühmtesten Straßen der USA. Wenn man sich im entsprechenden Wohnheim mit zwei anderen ein Zimmer teilt, kostet das immernoch 16.000 Dollar, dazu kommen noch obligatorisch 3000 Dollar für den "meal plan", also die Mensa, die man mitbezahlen muss.

Die Orientation Week begann mit einem Welcome-Wochenende für "Freshmen", Uni-Neulinge mit ihren Eltern, an dem ich nicht teilgenommen habe (ich bin weder Uni-Neuling, noch sind meine Eltern hier).


Am Samstag, den 22.8. wurde ich zum ersten Mal offiziell bei einer Veranstaltung für International Students willkommen geheißen. Es gab Informationen zur Stadt, zum Visum, zum ISSS (International Student and Scholar Service) und überhaupt allem, was man wissen sollte oder wollte (leider hab ich vergessen, wo es die beste Pizza der Stadt gibt). Inklusive Quizz und Preisverleihung. Dort habe ich einen Chinesen wiedergetroffen, der schon sein halbes Leben im Ausland studiert hat und den ich von der Aufnahmeprüfung kannte. Er ist sehr groß, hat blondierte Haare und ist Counter-Tenor.


Am Montag begann die allgemeine Orientation Week. Im brandneuen Hauptgebäude der Uni bekam jeder Student eine personalisierte Mappe mit Informationen, unter anderem, an welchen "Placement Tests" in Musiktheorie er noch am selben Tag teilzunehmen hatte - wovon der eine oder andere, mich inklusive, doch etwas überrascht war. Außerdem erhielten wir ein schwarzes "New School" T-Shirt (meines ist mir leider drei Nummern zu groß und dient nun als Nachthemd), bevor man im ersten Stock zum kostenlosen Frühstück mit Obstsalat und Bagels geschickt wurde. Dort fand dann ein erstes, vorsichtiges Beschnuppern der Studenten statt, bis wir nach einer Stunde in den größten Saal, gleichzeitig auch Konzerthalle, pilgerten. Dort wurden wir von Rektoren der Uni und der Departments, von Verwaltung und Verantwortlichen herzlich begrüßt (2) und eine Stunde lang willkommen geheißen. Die zweite Stunde wurde ich dann nochmal speziell als Mannes Student willkommen geheißen (3) und über meine Placement Tests aufgeklärt.

Vor selbigen gab es aber erst einmal noch Pizza für alle, natürlich wieder kostenlos.

Anschließend habe ich Gruppen-Tests in Gehörbildung (Melodiediktat - für mich nicht schwierig) und Musiktheorie (Vierstimmiger Satz und Generalbass aussetzen, was ich bisher leider nie geübt habe...) gemacht.

Am Montag habe ich unter anderem Clara kennengelernt, eine Schweizerin, die ihr halbes Leben in Peking und Honkong verbracht hat, und nun mit 19 Jahren allein in New York Schauspiel studiert.

 

Am Dienstag habe ich eine Campus-Tour mitgemacht. Es gibt einige Uni-Gebäude, die alle ungefähr auf Höhe der 13. Straße bei der Fifth Ave liegen. Die Gebäude für Kunst und Design fand ich sehr beeindruckend, geschmückt mit Bildern, Fotografien und Installationen von Studenten. Bei Zeiten muss ich mir das noch genauer ansehen. Schade finde ich allerdings, dass es keine richtige Möglichkeit gibt, sich draußen aufzuhalten. Park oder Wiese ist nicht vorhanden, Bänke auch nicht. Nur in einem der Gebäude gibt es einen etwas hässlichen Innenhof, der überdacht ist, und neben dem Hauptgebäude hat die Stadt vier Gartentische und Stühle aufgestellt. Wenn ich Glück habe, ist mal einer frei.

Anschließend wurde ich wieder mal willkommen geheißen, diesmal wieder als International Student (4). Die "Light refreshments" entpuppten sich als riesiges, buntes Buffet, inklusive Krabben! Dort habe ich Tatjana aus Russland kennengelernt, die in der Lotterie eine Greencard gewonnen hat. Ich glaube, das versuche ich auch mal. Sie hat übrigens das Bild bestätigt, das sich mir von Russland gebildet hat - als ich fragte, ob ich mich mit an den Tisch setzen darf, war sie etwas reserviert und kühl. Doch kaum hatten wir ein Gespräch begonnen und ich hatte gar erzählt, dass ich mal in St. Petersburg studiert hatte, redete sie wie ein Wasserfall, behandelte mich wie ihre beste Freundin und ist extra eine Gabel für mich suchen gegangen (ich brauchte eine und es war keine in Sicht...).

 

Am Mittwoch wurde ich wieder Willkommen geheißen, diesmal als "Performing Arts" - Student (5), zusammen mit den Jazzern und Schauspielern. Es gab eine kleine Frühstücksmesse mit Ständen von Organisationen, Angeboten und Möglichkeiten der Uni. Zum Beispiel dem "Student Health Service", der unter anderem auch Ohr-Akkupressur, Meditation, Kunst-Therapie und Reiki-Zirkel anbietet, vom Carreer-Center, wo man mit mir 1:1 meine Karriere plant, von der Recreation (Sport) - Abteilung, die auch Klettern, Kanu-Touren, Trapez und Camping anbietet, oder von der Umwelt-Gruppe.

Etwas später wurde ich nochmal Willkommen geheißen, und zwar als Klavier-Master student (6). Wir sind ca. zehn neue Studenten und haben einen Personal Adviser, Maggie, die unsere erste Ansprechpartnerin ist und uns erklärt hat, wie wir uns für Kuse einschreiben. So ein Ansprechpartner ist eine prima Sache, in Deutschland ist nie jemand für irgendetwas zuständig. Da wurde ich schon öfter von einem zum nächsten geschickt, bis ich wieder beim ersten angekommen war. Und nun - nicht verzagen, Maggie fragen!

Die Kurse durfte ich online wählen und mich einschreiben, das war für mich gar nicht so einfach (ich erwähne nochmal, dass die würzburger Hochschulbibilothek während meiner Studienzeit die Karteikarten abgeschafft hat). Ich habe sehr viele Freiheiten und habe neben Klaiver- und Kammermusikunterricht und Musiktheorie vier Fächer gewählt: Improvisation, Arrangement, Dirigieren und "Music to Audience", wo es in irgend einer Form um mediale Selbstpräsentation und Film geht.

 

Am Donnerstag wurde ich nochmal begrüßt (7), diesmal als Anne Riegler, und zwar von Maggie, meiner persönlichen Beraterin. Mit ihr hatte ich einen Termin ausgemacht, um ein paar Fragen zu stellen und checken zu lassen, ob ich auch richtig gewählt hatte. Den Termin habe ich über "Starfish" ausgemacht - ein Online-Netzwerk in meinem Studenten-Online-Account, in dem ich sämtliche Personen aufgelistet sehe, mit denen ich in Kontakt treten könnte. So kann ich Termine vereinbaren oder allen meinen Professoren gleichzeitig schreiben, dass ich nächste Woche leider nicht kommen kann, weil ich ein Konzert in der Carnegie Hall spielen muss.

Schließlich war ich noch bei der Infoveranstaltung des "University Learning Center", das viel mehr als ein Nachhilfe-Center ist. In jedem Stadium einer schriftlichen oder mündlichen Arbeit kann man sich dort mit jemandem Treffen, der einem hilft, die Aufgabe bestmöglich abzuschließen. Es gibt auch Mathe-Nachhilfe oder Workshops in Professional Writing, Exel und so weiter. Eine ziemlich gute Sache!

Und bei der Recreation-Infoveranstaltung war ich ebenfalls. Zu den "Events" kann man sogar manchmal Uni-Fremde mitbringen, die dann ebenfalls Vergünstigungen erhalten.

Am Donnerstag haben mich im Aufzug zwei schwule Studenten aufgegabelt und sind mit mir Abendessen gegangen. Der eine kommt aus Israel und ist auch Countertenor. Ich habe noch nie in meinem Leben vorher einen Countertenor kennengelernt. Er hat mich aufgeklärt, dass Tel Aviv erstens mindestens so liberal sei wie New York, und zweitens quasi alle Countertenöre schwul seien, weil heterosexuelle Männer sich das niemals trauen würden. Aber wenn man schonmal das sexuelle Coming Out hinter sich hätte, wäre das zweite Coming Out ("ich werde Counter-Tenor") gar nicht mehr so schlimm. Gut, dass mir das mal einer gesagt hat.

 

Am Freitag gab es schließlich noch eine Abschluss-Veranstaltung für alle International Students (Willkommenheißung Nummer 8, mindestens!) mit zusammengefasster Information über die hunderttausend Angebote die man hat, Erläuterung der Wohlfühl-Kurve des Kulturschoks und kleinen gespielten Szenen in denen erklärt wurde, dass die Amerikaner freundlicher tun als sie eigentlich sind. Man soll bloß nicht vor seinem Handy sitzen und auf einen Anruf warten, der aus Freundlichkeit angekündigt wurde. Außerdem wurde, weil wir ja noch nicht genug Auswahl haben, noch auf eine außeruniversitäre Organisation für International Students hingewiesen, die auch noch alles mögliche anbietet. Man kann zum Beispiel in die Bronx gehen und Schulkindern, die noch nie in Manhattan waren, von fremden Ländern und Menschen berichten.

Erschlagen von all der Information habe ich mir schließlich noch ein Ohr-Akkupressur-Pflaster aus dem Health-Center gegönnt (Ein Pflaster mit einem kleinen Kügelchen drin) und an einer sehr angenehmen Meditation teilgenommen.

 

Generell kann man sagen: Nicht nur ich bin neu, an der Uni ist auch vieles neu. Sie heißt ja auch "The New School" ;-)

Das Hauptgebäude ist niegelnagelneu, und die drei Stockwerke der Mannes School (die gerade 70 Straßen nach Süden gezogen ist) ist so neu, dass es noch nicht mal ganz fertig ist. Viele Lehrer und Verwaltungsangestellte sind neu, das Online-Kommunikations-System ist neu, der Übeplan ist neu. Aber das ist prima, dann bin ich nämlich nicht die einzige Verwirrte.

Klavierunterricht bei Jerome Rose

Bevor J.Rose Ende August zum Busoni-Wettbewerb nach Italien aufgebrochen ist, habe ich noch meine erste offizielle Klavierstunde als Studentin erhalten. Er unterrichtet bei sich zu Hause in einem großen Apartment, wo er zwei ältere Steinway-Flügel stehen hat. Ich bin erstaunt, dass er offenbar hypertolerante Nachbarn hat, oder das Gebäude ist so gut schallisoliert...? Er hatte mir im März mal erzählt, dass sich nur jemand beschwert hat, als er mal im Sommer bei offenem Fenster mit einem Schüler das Tschaikowsky-Konzert gespielt hat. Selbiges hatte ich auch vor... 

Jerome Rose hat als Musiker einen recht berühmten Namen. Er hat viele CDs eingespielt, gibt noch heute Konzerte, hat sein eigenes Klavierfestival jeden Sommer und ist oft Mitglied in Wettbewerbsjurys - mit 77 Jahren. Die merkt man ihm allerdings nicht an, ich hoffe, ich bin in diesem Alter auch noch so fähig und agil wie er!


Er war sehr leger gekleidet (offenes Hemd), setzte sich in seinen großen Lehnstuhl und fragte mich erstmal aus, warum ich denn eigentlich gekommen wäre und was für Ziele ich hätte, und sagte auch, dass er meine Anstrengungen sehr schätze und froh sei, dass ich nun da wäre. Wir unterhielten uns eine Weile, und ich finde seine Ansichten sehr vernüntig und gut, das war mir schon bei unserem ersten Treffen vor einem Jahr aufgefallen. Sein Kommentar zu Wettbewerben ist beispielsweise: Wenn man sie gewinnt, ist es schön. Wenn nicht, soll man sich doch von fremden Menschen, die einen nicht kennen und die man selbst nicht kennt, "vorschreiben" lassen, was man tun oder nicht tun kann, will oder sollte. Das würde man doch nicht mal seine eigenen Eltern entscheiden lassen - warum dann so viel von einer fremden Jury abhängig machen? Und überhaupt wüsste er ja, wie korrupt und politisch Wettbewerbe seien. Natürlich würde er mich nicht davon abhalten und würde sich freuen, wenn ich den Beethovenwettbewerb gewinne, bei dem er vielleicht in der Jury sitzen wird (aha?!). Sehen wir mal.


Als nächstes fragte er mich, was ich denn spielen wollte. Da ich bisher keine Zeit gehabt hatte, neues Repertoire zu üben hatte ich geplant, ihm mindestens den 1. Satz des Tschaikowsky-Konzertes vorzuspielen. "You will make me work today!", sagte er. Ob er da jetzt die Begleitung am zweiten Klavier meinte oder die Arbeit mit mir am Stück, war nicht ganz eindeutig zu sagen. Noch bevor ich damit fertig war, den Stuhl einzustellen und das Notenpult abzubauen, hatte er schon die wenigen Takte der Orchestereinleitung gespielt...

Rose hat viel schneller gespielt als ich das gewöhnt war, und sein alter, etwas schwergängiger und nebulöser D-Flügel sind auch nicht so leicht zu spielen. Seine Auffassung vom Konzert ist eher die traditionelle des letzten Jahrhunderts, das bedeutet: Den Anfang so laut und kraftvoll spielen, wie es geht! "Du hast doch breite Schultern, benutze sie!" Ich habe kürzlich gelesen, dass Tschaikowsky das Konzert gar nicht so brutal gedacht hatte und hatte einen etwas sanfteren, lyrischeren Plan von allem. Zwischendurch fragte Rose mal als er mit einer Stelle unzufrieden war: "Did you have lessons with this piece?" Was für eine Frage. Erstaunlicher Weise hat er aber gar nicht an meinen Oktaven herumgemeckert. Entweder hatte er keine Lust, da komplizierter ins Detail zu gehen, oder sie müssen für ihn doch nicht mit Lichtgeschwindigkeit gespielt werden.

Auch wenn ich nicht immer dieselben Ideen hatte wie Rose, mache ich erstmal (fast) alles, was er von mir möchte, denn nur durchs Ausprobieren und "in die Hand nehmen" kann ich seine Ideen wirklich nachempfinden und in neue Richtungen denken. Wenn ich die Dinge wirklich am eigenen Leib erfahren und durchdrungen habe, kann ich später immer noch entscheiden, ob ich es so machen möchte. Grundsätzlich finde ich die Ideen aber alle nachvollziehbar, sinnvoll und schön, und ich wurde auch immer mal gefragt, wie ich denn etwas haben möchte oder warum ich etwas auf eine Weise spiele.


Während des Unterrichts ist Rose erbarmungslos, nur bedingt geduldig und schonungslos ehrlich (mehr dazu später, beim nächsten Schüler!). Mein Eindruck ist aber, dass er nicht die russische Holzhammer-Druck-Angst-Methode anwendet, sondern einfach alles in den Dienst der Musik stellt. Es ist ihm egal, ob etwas schwierig oder neu ist, ob man nicht eingespielt ist, der Flügel ungewohnt ist oder sonst eine andere Ausrede vorhanden wäre. Wenn etwas noch nicht gut oder stimmig klingt, muss es verbessert werden. So ist das! Ich hatte ja vergangenen September beim ersten Kennenlernen und im März vor der Aufnahmeprüfung schon ein paar Unterrichtsstunden. Am Anfang kam ich mir vor, als könnte ich eigentlich gar nicht Klavier spielen und alles wäre schlecht und unzureichend. Aber nachdem ich etwas genauer einschätzen kann, wie der Unterricht so abläuft, kann ich etwas selbstbewusster sein und auch den Mund mal aufmachen. Ich hoffe und denke, dass Rose mich und vor allem mein Klavierspiel doch einigermaßen schätzt, sonst hätte er mich wohl nicht aufgenommen.

Und nach dem 1. Satz vom Tschaikowsky bekam ich sogar ein klitzekleines Lob im Stil "Well done" oder sowas.


Etwas weniger angenehm dürfte die Unterrichtsstunde für den nächsten Schüler gewesen sein.

Schon während ich noch spielte, sah ich draußen vor dem Fenster einen jungen Herrn herumstehen und fragte mich, ob der nur interessiert in ein Erdgeschoss-Apartment mit merkwürdiger Musik hineinschaute, oder wohl der nächste Schüler war. 15 Minuten später kam er tatsächlich herein. Ich fragte, ob ich bei der Unterrichtsstunde zuhören dürfe und setzte mich aufs Sofa.

Es stellte sich heraus, dass es kein Student von Rose war, sondern jemand, der ihm aus irgendwelchen Gründen vorspielen wollte. Er war auch nicht 17 oder 18 wie Rose gedacht hatte, sondern fast 23. Auf Nachfrage, was denn seine Pläne wären, kam eine sehr überraschende Antwort:

Er würde demnächst seinen College-Abschluss machen, hätte eigentlich gar keinen richtigen Klavierlehrer, wollte in die Film-Industrie gehen, vielleicht auch nach Frankreich, eigentlich müsste er aber erstmal Französisch lernen, und von Aufnahmeverfahren für Film-Hochschulen wusste er auch nichts. Weiterhin hätte er am 12. September ein Konzert, allerdings sei er vorher noch nie öffentlich aufgetreten mit wenigen Ausnahmen. Achja, und er wollte gerne einen Dokumentationsfilm über sich selbst drehen oder jemanden, der als Laie Klavierunterricht bekommt.

Wie ein strenger Meister hat Rose ihm ziemlich unangenehme Fragen gestellt - warum er sich anmaße zu glauben, dass er alleine Klavierspielen lernen könne, warum er sich denn nicht um seine Zukunft kümmere, wie er sich das überhaupt vorstelle, und der arme Kerl wurde auf seinem Klavierstuhl immer kleiner. "It's called eating!", sagte Rose. Man muss irgendwie Geld für etwas zu Essen verdienen, das fällt nicht vom Himmel. Ja, es sei dumm von ihm gewesen, gab er zu, und dass ihm das jetzt auch aufgehe und leid tue.

Schließlich wollte er das erste Impromptu in c-moll von Schubert spielen - ein klanglich sehr, sehr anspruchsvolles Stück und auch technisch nicht ganz einfach. Es beginnt mit einer vierfachen Oktave im Forte, auf die eine Pause folgt.

Als der Schüler bei der Pause seine Hände in den Schoß legte, unterbrach Rose ihn also schon nach dem ersten Ton und machte ihm deutlich klar, dass es eine Unmöglichkeit sei die Hände wegzunehmen, dass die Spannung zerstört würde, ob ihm das nie ein Lehrer gesagt hätte? 

Das war zuviel für den Armen, er entschuldigte sich einen Moment und verließ schluchzend das Zimmer.

Zurück blieben Rose und ich und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zu mir sagte er "das ist wieder einer von diesen begabten jungen Leuten, die nicht arbeiten oder keinen guten Unterricht haben."

Schließlich kam der Schüler wieder herein und spielte das Impromptu doch noch, fast fehlerlos und für meine Begriffe mit hohem musikalischen Verständnis, aber eindeutig mit vielen fehlenden Grundkenntnissen, wie man überhaupt professionell Klavier spielt. Als ich neu in Würzburg bei Prof. Matthies angefangen habe, habe ich das Impromptu auch gespielt, da hat es wohl ähnlich geklungen. Ich fand es bewundernswert, dass ihm als verunsichertes Häufchen Elend, was er in diesem Moment war, eine so sichere Darbietung gelungen ist.

Anschließend gab es nochmal eine große Portion Weisheit, und Rose hat ihm erneut ins Gewissen geredet. Er müsse sich selbst kümmern, und zwar sofort, heute, nannte ihm die Telefonnummer von einer ehemaligen Studentin von ihm und sollte mindestens zweimal die Woche Unterricht nehmen, wenn sich bis zum Konzert im September etwas verbessern sollte. Er selbst veranschlagte pro Stunde eine Summe, von der man einen sehr luxuriösen Familienausflug mit mindestens fünf Kindern bezahlen könnte, sagte aber, dass das vertane Zeit und Geld seien. Denn er sprach ja nur in Verallgemeinerungen, gebraucht würde jetzt aber ein Lehrer, der Takt für Takt des Stückes durchgehen und so lange beharrlich daran arbeiten würde, bis sich etwas ändert und das Bewusstsein geschaffen ist, wo man hinhören muss. Beispielhaft demonstrierte er das an den ersten drei Taken des Impromptus.

Und überhaupt fände er die alte, romantische Vorstellung gut, dass man sich ernsthaft überlegen sollte, was man im Leben tun und erreichen möchte, ob man etwas bewirken und wer man sein möchte. Und dafür bräuchte man ältere, weisere Menschen, mit denen man sich darüber unterhalten und die einen Leiten könnten. Was das Klavierspielen angeht betonte er noch mehrmals, dass man soetwas nicht alleine lernen können und dass das kein großer Musiker jemals ganz ohne Lehrer geschafft hat. Alle hatten großartige Anleitung und jemanden, der sie zum harten Arbeiten veranlasst hat.


Der Schüler sagte mehrfach, dass das in jeder Hinsicht eine sehr lehrreiche und augenöffnende Unterrichtsstunde für ihn gewesen sei und verließ fast etwas paralysiert den Unterricht. Draußen habe ich ihn noch erwischt und mich eine Weile mit ihm unterhalten. Offenbar hatte ihm tatsächlich noch nie im Leben jemand deutlich gesagt, dass man sich selbst um Dinge kümmern muss und planen muss, und er sei froh und würde sofort diese andere Lehrerin anrufen. Meine Mailadresse wollte er auch haben (bisher hat er sich nicht gemeldet). Natürlich war es ihm unendlich peinlich, dass er zwischendurch die Fassung verloren hat, aber ich habe ihm versichert, dass das häufiger vorkommt als man meint. Wenn es um persönliche Leistung geht und noch dazu um Musik, die einen im Innersten bewegt, kann das leicht passieren.

Moments of New York

Ich werde die kleine Kolumne "Amerikanische Besonderheiten" von nun an mit dieser neuen abwechseln. Hier werde ich kleine, besondere, lustige, eindrückliche oder sonst wie bemerkenswerte Situationen oder Beobachtungen festhalten, die mir in New York passieren. Ich halte sie wieder in meinem kleinen Notitzbüchlein fest (vielen Dank an Lisa, die mir schon für meine Russland-Zeit so ein hübsches Heftchen geschenkt hat!).


Vor einigen Tagen war ich unterwegs am Union Square, einem kleinen Park und zentralen Treffpunkt in New York, der auf meinem Weg zur Uni liegt. Gerade war ich auf dem Heimweg, und Marktstände wurden abgebaut. Ich lief an ein paar Blumenvasen vorbei, als mich der Verkäufer ansprach. Fast wollte ich weitergehen, weil ich meistens weitergehe wenn ich auf der Straße angequatscht werde, beschloss aber aus irgendeinem Grund, diesmal stehen zu bleiben. Da begriff ich - der Mann wollte mir Blumen schenken! "Are you sure?!" - "Sure, it's the end of the day, take whatever you want." Was für eine freundliche Geste! Ich habe einen kleinen Strauß Sonnenblumen mitgenommen und mich den ganzen Abend gefreut.


Ein paar Tage später sprach mich wieder jemand am Union Square an. Diesmal war es allerdings ein Verkäufer, der mir einen 70$ teuren Haarschnitt, inklusvie Massage und Wein, andrehen wollte. Ich erzählte, dass ich mir in Deutschland die Haare schneiden ließe und das nur 20-30 Euro koste, und dass ich vorbei käme, falls ich zufällig ganz viel Geld hätte. Tja, war wohl nix diesmal.


In New York gibt es sehr viele Obdachlose in unterschiedlich gepflegtem Zustand, die um die Aufmerksamkeit und Geld der Passanten buhlen. Fast alle haben ein Papp-Schild, auf dem ein paar herzerweichende Worte sehen. Wie zum Beispiel "If your masturbate, smile and spare some change" (mit Change ist Wechselgeld gemeint, mit dem man hier meistens nichts anfangen kann). Vor der Uni sprach mich mal ein ziemlich ungut aussehender Obdachloser an und fragte, warum ich denn keinen Hund habe. - ?? - Ja, den bräuchte man, um liebgehabt zu werden, denn die Eltern würden ihre Kinder nie lieben und sie nur loswerden wollen. Von dieser Meinung war er auch nicht abzubringen. Wie traurig.


Am Sonntag war ich mit der dreijährigen Eliana und ihrer Mutter in der U-Bahn unterwegs. Es gibt nur wenige Sitzgelegenheiten dort. Als Mama saß und Anne den Platz von Eliana annehmen musste, ging Eliana ruhig und selbstbewusst zu der nicht mehr ganz jungen Frau, die neben Mama saß. "Excuse me!" - "Yes?" - "I wanna sit!" Dieses freundliche Fordern einer Dreijährigen war wirklich sehr lustig! Mama hat natürlich gleich abgewehrt, aber die Frau fand, dass Eliana durchaus recht hatte, stand auf und setzte sich woanders hin. So konnten wir drei nebeneinander Sitzen.


Was mir kürzlich eingefallen ist - als ich in der Unterstufe im Gymnasium war, erzählte mir mal eine Mitschülerin, dass sie später in Manhatten wohnen wolle. Ich fragte mich damals, warum, und was das wohl für eine komische Stadt sei. Jahre später fiel mir auf, dass es ein Stadtteil von New York ist. Und nun wohne ich hier. Wie das Leben so spielt... Ich weiß leider nicht mal mehr den Namen der Schülerin. Ob sie auch schon hier wohnt?

Und zum Schluss noch eine sehr unterhaltsame, kurze Aufnahme von einem der zahllosen Musiker in der Subway. Der hat ganz gut Geld verdient!

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Kommentare: 4
  • #1

    Michael (Mittwoch, 02 September 2015 21:28)

    Liebe Anne,
    Wieviele Anschläge schreibst Du pro Minute? Es müssen viele sein, kommt wahrscheinlich vom Klavierspielen, sonst würde Dich Deine Erzähllust - an der wir natürlich unsere Freude haben - ganz schön vom Üben abhalten. Wir haben übrigens damals im März 1997 in der 54. Str. gewohnt. So ein bisschen können wir noch einordnen, wo Du Dich rumtreibst.
    Liebe Grüße
    Michael

  • #2

    Wolfgang (Mittwoch, 02 September 2015 23:46)

    Hallo Anne,
    danke für diese aufschlußreiche und immer wieder zum Schmunzeln anregende Schilderung Deines New Yorker Abenteuers. Ich wünsche Dir auch weiterhin viele nette Menschen mit mindestens ebensovielen Blumensträußen.

  • #3

    M. (Donnerstag, 03 September 2015 03:43)

    Hi Anne,
    ich habe alle Einträge genauestens gelesen...vorallem die Stellen mit den wilden Tieren in Kanada....Du hast mich ja überdeutlich dazu angeregt ("Mama, jetzt nicht weiterlesen")! War mir schon klar, dass eine Reise mit Florence sehr naturnah sein würde. Tolle Bilder aus Kanada und überhaupt. Toller Blog...ich hab schon Deine Beschreibungen aus St. Petersburg sehr genossen. Super, dass Du jetzt in N.Y. bist und wieder Deine Erlebnisse öffentlich machst. Viel Freude weiter, gutes Arbeiten. Ich bin in Gedanken bei Dir und bin gespannt, wie´s weitergeht! Gott befohlen! M.

  • #4

    Franzipopanzi (Donnerstag, 03 September 2015 12:33)

    Liebste Annepopanne,
    klingt ja schon mal sehr spannend, was du erzählst! Für die nächste Folge wünsche ich mir dann ein paar Infos zu deiner Gastfamilie/Unterkunft/"Leben zuhause". Die beste Pizza New Yorks gibt's übrigens irgendwo an einer Straßenecke, da führen sie dich auf der einen Food Tour hin!
    Bei mir geht's am 16. auch wieder als "Erstklässlerin" los, aber wir werden glaube ich nur einmal begrüßt und vereidigt, danach sind wir selber mit Begrüßen dran...
    Liebe Grüße aus dem nicht mehr allzu warmen Franken und ENJOY YOURSELF!
    Franzi