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Ach, das kann man studieren?

Diese verstörende Frage erhielt ich hin und wieder als Reaktion, wenn ich in geselliger Runde erzählte, dass ich Klavier studiere. Ach, haha, Spaß, das habe ich gerade erfunden um einen Witz zu machen, ich studiere eigentlich BWL. Das hätte ich manchmal der Einfachheit halber entgegnen sollen. Zum Beispiel, als man mir bei einer WG-Besichtigung antwortete, dass es da doch um „Mozart, Goethe und so“ gehe (das habe ich mir nicht ausgedacht!), und man als Kind „auch mal Keyboard gespielt“ habe. Dass ein Keyboard mit einem Flügel etwa so viel zu tun hat wie ein Bobbycar mit einem Rennwagen, begründe ich gerne an anderer Stelle. Nichts gegen Keyboards oder E-Pianos, die verfolgen einen schönen und sinnvollen Zweck, genau wie Bobbycars. Aber eben einen ganz anderen als ein Flügel oder ein Rennwagen.

 

Ja, man kann Klavier studieren. Man kann sogar Komposition, Dirigieren und Blockflöte studieren. Aber was lernt man da eigentlich, wenn schon die Anforderungen bei der Aufnahmeprüfung so astronomisch hoch sind, dass man dafür bereits um die 10.000 Übestunden investiert hat? Ich gestehe, ich habe auch keine konkrete Vorstellung davon, wie die Studienpläne von Kristallografie, Brauereiwesen oder friesischer Philologie aussehen. Vielleicht möchte mal jemand eine Kolumne darüber schreiben?

 

Das Ziel des Musikstudiums ist, vom überdurchschnittlich guten Hobbyspieler zum professionellen, selbstständigen Musiker zu werden. Manche Kinder und Jugendliche erreichen dieses Niveau bereits zu Schulzeiten, sie können dann ein Jungstudium aufnehmen (dazu an anderer Stelle mehr). Alles dreht sich um die Weiterentwicklung der musikalischen und technischen Fähigkeiten auf dem Instrument, um den kreativen Umgang mit Musik, Kenntnisse in Theoriefächern und ein selbstsicheres Auftreten auf der Bühne. Damit sind wir in vielerlei Hinsicht nicht weit weg vom Profisport oder der Schauspielerei, denn alle drei Disziplinen setzen Körperbeherrschung, Köpfchen und Kreativität voraus.

 

Eine der Besonderheiten des Studiums ist der beispiellos gute Betreuungsschlüssel. Häufig kommt auf einen Dozenten im Unterricht eine kleine zweistellige oder gar einstellige Anzahl von Studenten, da es selten nur ums Zuhören geht, sondern meistens ums Mitmachen. Zum einen sind da die Musiktheoriefächer: Harmonielehre, Tonsatz, Formenlehre (wie baut man eine Sonate?) und Gehörbildung. Vor allem die Gehörbildung ist für viele ein Schreckgespenst, da man sich hier nur auf einen Sinn verlässt, nämlich das Hören. Aus welchen sechs Tönen besteht dieser Akkord? Welche Instrumente hört man in diesem Abschnitt der Sinfonie? Sagt es mir, singt es nach, schreibt es auf! Nachschauen gilt nicht! Zum Glück kann man all das üben und sein Gehör stetig verfeinern.

 

Dann gibt es wissenschaftliche Fächer wie zum Beispiel Musikgeschichte, Musikwissenschaft, Instrumentenkunde und Akustik. Hier geht es darum, Hintergrundwissen zu schaffen, damit man die Werke der Komponisten besser einordnen kann. Wer wusste, dass Johann Sebastian Bach (einer der größten Komponisten aller Zeiten) mit neun Jahren Vollwaise wurde und er seine erste Ehefrau und die meisten seiner zwanzig Kinder begraben musste? Oder dass die Klaviere zu Zeiten Frédéric Chopins ganz anders klangen und sich anders anfühlten als heute?

 

Je nach Studiengang gibt es eine Vielzahl pädagogische Fächer, die zum Beispiel zum Instrumentallehrer ausbilden, darunter die Methodik des Hauptfaches und Lehrproben. Es ist eine fatale Annahme, dass jemand ein Instrument gut unterrichten können soll, nur weil er ganz nett darauf spielen kann. Ich bin ja auch kein Fahrlehrer, obwohl ich wunderschön Autofahren kann. Klavierspielen ist sogar noch ein wenig komplexer als Autofahren, und wenn sich am Anfang falsche Grundlagen einschleifen, hängen sie einem lange nach. Andererseits endet ein Musizierstündchen zum Glück selten tödlich, weshalb der Begriff „Klavierlehrer“ nicht geschützt ist und jeder diesen Unterricht anbieten darf. In einer späteren Folge werde ich erzählen, woran man guten Instrumentalunterricht erkennt, denn als Laie ohne Vorkenntnisse muss man sich meist blind auf seinen Lehrer verlassen, ohne dessen Befähigung objektiv einschätzen zu können.

 

Natürlich gibt es im Studium auch viele Fächer, in denen aktiv musiziert wird: Man lernt die Grundzüge des Dirigierens, spielt Kammermusik, beschäftigt sich mit Alter Musik und spielt auf historischen Instrumenten. Oder mit der Neuen Musik, die für unerfahrene Ohren manchmal wie ein Haufen fallengelassener Töpfe klingt (an anderer Stelle übersetze ich das gerne). Es gibt inzwischen immer öfter Angebote zum Thema Selbstmanagement und Auftrittstraining, und erfreulicher Weise etabliert sich zunehmend, was im Profisport längst selbstverständlich ist: Das Thema Musikergesundheit auf körperlicher, mentaler und psychischer Ebene.

 

Selbstverständlich gibt es Konzerte und künstlerische Projekte, an denen man teilnehmen kann und muss: Sinfoniekonzerte, Opern, Kammermusikkonzerte, Instrumentalabende einzelner Klassen, interne Vorspiele zum Testen von frisch geübtem Repertoire, Konzerte mit Komponistenporträts, Konzerte in Kooperation mit anderen Hochschulen, Gedenkkonzerte, Konzerte in kleinen Sälen auf dem Dorf. Spielen, spielen, spielen heißt die Devise, denn das schafft Routine im Umgang mit Lampenfieber, dem ich mich zu gegebener Zeit gesondert widmen werde.

 

Und dann gibt es noch den Hauptfachunterricht, das Herz des Musikstudiums. Neunzig Minuten Einzelunterricht pro Woche mit einem Professor, der sich nur mir und meinen Fähigkeiten, Fragen, Ideen und Schwierigkeiten widmet. Der mit mir in die Tiefen der Musik vordringt, auf sphärischen Klängen schwebt, in Abgründe blickt und höchste Gefühle miterlebt. Der mir eine Welt entschlüsselt, die mir andernfalls verborgen bliebe, weil ich Details erst höre, wenn ich sie kennengelernt habe, und der mir zeigt, wie ich meine Hand bewegen soll, damit es leichter funktioniert. Er spielt mir so klar und schön vor, dass ich die Musik plötzlich verstehe, und mein Ehrgeiz, auch so zu spielen, wächst ins Unermessliche. Der Hauptfachlehrer begleitet über mehrere Jahre meine musikalische und persönliche Entwicklung, spricht mir vor Wettbewerben Mut zu, baut mich auf, wenn ich eine Krise habe und freut sich mit mir, wenn ich einen weiteren Meilenstein genommen habe. Ich bin ihm bis an mein Lebensende dankbar, weil er mir einen Schatz geschenkt hat, der mir für immer erhalten bleiben wird.

 

Klingt nach mehr als „Professor und Student“? Das ist es auch. Viele Professoren sind mit ihren Studenten per Du, richten bei sich zu Hause eine Weihnachtsfeier mit ihren zehn Schülern aus, laden den einen nach dem Unterricht zum Kaffee ein und fahren Abends zum Konzert des anderen. Manchmal ergeben sich aus einem ehemaligen Lehrer-Schüler-Verhältnis lebenslange, tiefe Freundschaften. Wann passiert es schon, dass ich mich wöchentlich mit einer Person treffe, die nur für mich und meine Bedürfnisse da ist? Es ist fast selbstverständlich, dass sich da eine persönliche, wenn auch professionelle Verbundenheit entwickelt (und manchmal verlässt diese Verbundenheit auch die professionelle Ebene und die ganze Hochschule tratscht darüber, aber das ist eine andere Geschichte).

 

Aus diesem Grund ist es auch nicht unüblich, sich einem Professor vor der Aufnahmeprüfung persönlich vorzustellen. Das ist keine Schleimerei oder Schieberei, sondern es ist sinnvoll zu testen, ob man sich mag und gerne zusammenarbeiten möchte. Schließlich muss man es jede Woche mindestens anderthalb Stunden miteinander aushalten. Außerdem ist das Musizieren und die Arbeit am eigenen Spiel etwas sehr Intimes und Sensibles, denn man spielt sein Instrument nicht nur mit den Fingern, sondern vor allem mit dem Gehirn und mit der Seele. Und daran herumzuschrauben setzt Vertrauen voraus.

 

Durch ihre Position in Prüfungen und im Instrumentalunterricht haben Professoren und Dozenten an Musikhochschulen viel Verantwortung und auch Macht gegenüber ihren Zöglingen. Die meisten gehen damit verantwortungsbewusst und behutsam um, sind in Beratungsgesprächen freundlich, aufbauend, aber auch ehrlich. Niemandem ist geholfen, wenn falsche Erwartungen an das eigene Können geweckt werden, die in eine große Enttäuschung münden.

Doch manche legen auch ein gorillahaftes Machtgehabe an den Tag oder glänzen mit maßloser Arroganz. Sie erscheinen nicht zum Unterricht, machen Ihre Studenten nieder, bewerten unfair und haben für Studienbewerber nur abfällige Bemerkungen übrig. Fast jeder angehende Profimusiker begegnet früher oder später so einem bedauernswerten Ellenbogenmenschen, der andere kleinmacht, um selbst größer zu erscheinen. Aber die gibt es überall und in jeder Branche, man muss nur lernen, mit ihnen zurechtzukommen. Letztendlich sollte es einen nicht entmutigen, wenn jemand anders besser spielt als man selbst, sondern motivieren: Wenn die oder der das kann, ist es zumindest nicht unmöglich. Und was nicht unmöglich ist, kann auch ich erreichen. 

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