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Excuse me, how do I get to Carnegie Hall? – Practice, practice, practice!

Warum sperren sich manche Menschen freiwillig stundenlang in sechs Quadratmeter große, fensterlose, müffelnde Zellen?

 

Die größte Herausforderung im Leben eines Musikstudenten ist nicht die nächste Prüfung. Es ist auch nicht das Lampenfieber oder der ständige Wettbewerb mit anderen. Sondern es ist die Frage, wo, wann und wie lange man üben kann. Nach den Übemöglichkeiten wird der Tag, die Woche, ja das ganze Leben ausgerichtet. Denn das tägliche Üben des Musikers ist das tägliche Training des Profisportlers. Nur dass es leider für Musiker keine Entsprechung zum Fitnessstudio gibt, wo man sich ganz easy zum Trainieren anmelden könnte. Jeder Musiker, der schon einmal eine Wohnung gesucht hat, kann die Frustration eines alleinerziehenden Hundebesitzers ohne biodeutschen Nachnamen und mit Bezahlung vom Jobcenter sehr gut nachvollziehen. Uns will keiner haben, mimimi.

 

Eine der häufigsten Fragen, die uns nach Konzerten gestellt wird, ist „Wie viel üben Sie am Tag?“. Sie kommt gleich nach der Frage „Wie können Sie sich das alles merken?“, auf die ich an anderer Stelle eingehen werde. In einer deutschen Großbank fragte mich einmal eine musikferne Beraterin, die wohl kurz zuvor über die Wichtigkeit des Smalltalks im Kundengespräch aufgeklärt worden war, „wie oft pro Woche“ ich denn als Musikstudentin so üben würde. Och, wir üben eigentlich gar nicht, wir schütteln das alles aus dem Ärmel. Das ist angeboren, Begabung, Talent, gottgegeben. Tatsächlich begegnet jedem Musiker immer wieder die verblüfft geäußerte Frage, ob man denn noch immer üben müsse? Ja, wir müssen immer noch üben. Heute, morgen, und auch in zehn Jahren noch. Wir werden damit niemals fertig. Aber wir üben gerne, das Spielen des Instruments gehört zum schönsten Aspekt des Musikerdaseins. Auch wenn ich nicht verschweigen will, dass es ab und zu Momente gibt, in denen man vom Üben genervt oder frustriert sein kann. Mit steigendem Spielniveau und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wird es im Laufe des Lebens normalerweise weniger.

 

Was passiert eigentlich in der Übezelle, bevor jemand auf der Bühne ein Konzert abliefert, das leichter aussieht als Zähneputzen? Grundsätzlich fallen darunter verschiedene Aspekte, die zum Gesamtergebnis beitragen wie Zutaten zu einem Kuchen. Der Fußballer übt ja auch nicht nur Tore schießen. Er verbessert auch die Ausdauer, trainiert Schnelligkeit und Koordination, macht Kopfbälle und ernährt sich gesund.

Ein Musiker lernt beim Üben das Stück kennen, bis er mit jeder Note vertraut ist (ja, wirklich mit jeder einzelnen, so unvorstellbar das auch klingen mag!). Er liest die Einzeichnungen des Komponisten, ordnet sie in den musikhistorischen Kontext ein und versucht zu ergründen, was der Komponist bei der unzureichenden Verschriftlichung einer flüchtigen Kunst wohl im Sinn hatte. Daraus wird die Interpretation eines Musikers, seine persönliche Idee auf Basis des Notentextes. Und sein Stil, der ihn von anderen Musikern unterscheidet und der so fein und besonders ist, dass keine zwei Interpretationen sich je genau gleichen. Deshalb gibt es Anhänger von Glenn Gould oder Martha Argerich, während andere die Einspielungen von Arthur Rubinstein oder Lang Lang bevorzugen.

Außerdem macht der übende Musiker sich mit der Funktionsweise des Instruments und seines eigenen Körpers vertraut und ergründet, mit welchen Bewegungen und welcher Spieltechnik das klangliche Ergebnis herauskommt, das er sich vorstellt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das alles kann ein Mensch nicht von allein lernen. Dazu braucht es einen fähigen Lehrer (an anderer Stelle mehr dazu).  

 

Was ist nun so schön am Üben? Was haben wir Übewilligen den tausenden von geplagten Musikschulkindern voraus, die eine Stunde vor dem Unterricht hektisch den Staub vom Geigenkasten wischen und eine Runde Paniküben, um nicht blank dazustehen? Ich kann nur mutmaßen. Natürlich braucht es eine grundsätzliche Begeisterung für das Instrument, für die Musik, für das aktuelle Stück, und Freude daran, sich künstlerisch auszudrücken. Aber Kreativität und Neugier, Spaß am Singen und Bewegen ist vielen Kindern gegeben, beste Voraussetzungen für das Instrumentalspiel. Ähnliche Fragen stellen sich vielleicht Erwachsene, die nach zwanzig Jahren ihr Instrument wieder herausholen oder sich mit zweiundsechzig einen lang gehegten (und realisierbaren!) Traum  erfüllen, aber mit ihrem Fortschritt unzufrieden sind. Meine vorsichtige Vermutung ist, dass viele gar nicht wissen, wie sie überhaupt üben sollen. Was man nicht kann, macht auch keinen Spaß. Daher sind hier fünf kleine Tipps, die das Üben vielleicht etwas einfacher machen:

 

1.      Routine! Binde das Musizieren in den Alltag ein wie Zähneputzen oder Nachrichten gucken. Mach zur Not Termine mit dir aus, die du in den Kalender schreibst. Auch wenn du müde bist: Fang an zu spielen! Nimm ein altes Stück, das dir Freude macht. Fast immer kommt die Lust dann ganz von selbst.

 

2.      Bleib dran. Welches Kind hat eines Tages beschlossen, aus seinem Bettchen aufzustehen und fortan auf zwei Beinen durchs Leben zu schreiten? Jeder Mensch ist zigfach auf die Nase gefallen, bis er Laufen gelernt hat. Sei nicht frustriert, wenn es heute noch nicht klappt. Die Lernkurve verläuft im Zickzack, aber sie verläuft aufwärts. Drüber schlafen hilft sehr! Deshalb lieber jeden Tag ein paar Minuten üben, als einmal die Woche zwei Stunden.

 

3.      Nicht immer wieder von Vorne anfangen. Ich sag es gerne nochmal: Nicht. Immer. Wieder. Von. Vorne. Anfangen. Suche dir kleine Abschnitte, einen oder zwei Takte, und übe nur die. Fang jeden Tag an einer anderen Stelle an, so lernst du das Stück gut kennen.

 

4.      Langsam. Langsam. Langsamer! So langsam, dass du genau weißt, was du tust. Möglichst nur richtige Töne spielen, denn die falschen übt man auch mit und macht sich doppelte Arbeit. Richte deine Aufmerksamkeit auf wechselnde Aspekte. Mal auf den Rhythmus, mal auf die richtigen Töne, mal auf die Lautstärke.  

 

5.      Von der Musik aus denken. Motorisch ausgeführte Fingerübungen nützen wenig und kosten Nerven. Jeder gespielte Ton soll klingen, von Sinn erfüllt sein, in Zusammenhang mit dem Davor und Danach stehen. Auch in einer Fingerübung. Sprich: Mach schöne Musik, und noch wichtiger: Hör dir dabei zu! Genieße!

 

Ich sollte wohl ergänzen, dass Üben nicht immer nur „Spaß“ machen muss. Es ist eine intellektuelle, emotionale, mentale und motorische Tätigkeit. Manche Aspekte davon können anstrengend oder langatmig sein, manchmal will sich keine rechte Lust am Spielen einstellen. Das ist der Moment, an dem viele leider aufgeben. Doch sie versagen sich damit die größte Freude: Durststrecken zu überwinden und umso glücklicher und stolzer auf das selbsterworbene Ergebnis zu blicken.

 

Es ist noch die Frage offen, wie lange wir denn nun üben. Mein Rekord zu Studienzeiten lag bei circa acht Stunden am Tag, aber das war eine Ausnahme. Normal waren eher vier bis sechs, danach ist das Hirn mit Verarbeiten und Abspeichern beschäftigt. Heute ist es aus Zeitgründen noch weniger und schwankt stark. Warum aber üben auch studierte Profis immer noch weiter, wenn es für 99,5% der Ohren schon perfekt klingt?

Weil wir immer wieder neue Stücke üben. Weil unser Spielniveau sinkt, wenn wir es nicht pflegen. Und weil wir den Eindruck haben, dass wir besser werden! Je mehr man sich mit Musik beschäftigt, desto genauer werden die Nuancen, die man hören kann, desto feiner die spieltechnischen Ausdrucksmöglichkeiten und desto höher der persönliche Anspruch an die Perfektion. Ich bin überzeugt davon, dass das Publikum dies hört, auch wenn die Leute nicht genau benennen können, warum das eine für sie besser klingt als das andere.

 

Zurück zum Übeproblem. An den meisten Musikhochschulen kann man üben. Wenn man sich stundenlang anstellt, mit dem Pförtner und seinen Schlüsseln per Du ist oder das schnellste Internet hat, weil im Online-Plan eine Zehntelsekunde nach Freischaltung alle Überäume ausgebucht sind. Wenn man sich nachts einen Wecker stellt, um sich als erster online einzutragen, wenn man das Mittagessen ausfallen lässt, weil da der Andrang geringer ist, wenn man sich abends in der Hochschule einschließen lässt und wartet, bis der Pförtner gegangen ist. Wenn man vor dem Überaum isst und schläft, damit niemand anders reingeht, wenn man sich mit Freunden abwechselt, die einen morgens um halb sieben in eine Liste eintragen. Jede Hochschule hat ihr eigenes unzureichendes Übesystem. Bei einem Schlüssel von zwanzig Überäumen auf siebenhundert Studenten kann eben auch das beste System nicht mehr viel ausrichten.

Darum erklärt man zu Hause den Nachbarn mit Engelszungen, dass andere für das, was sie gerade kostenlos bekommen, Tickets kaufen müssen. Falls man ein eigenes Instrument besitzt und auf einen aus hundert Vermietern getroffen ist, der nicht aus Bequemlichkeit „keine Haustiere, keine Musikinstrumente, keine WGs, kein Jobcenter“ in die Anzeige geschrieben hat.

 

Liebe Politiker, liebe Stadträte, ich hätte da einen Vorschlag. Baut doch mal Wohnungen für Künstler. Mit guter Schallisolierung, Atelier und einem kleinen Vortragsraum mit Tanzboden. Für Musiker, bildende und darstellende Künstler. Und dann seid stolz darauf, bekommt Preise dafür und macht das Haus zum Vorzeigeprojekt. Jede Stadt sollte mindestens ein Künstlerhaus haben!

 

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