5 Abgedreht

In diesem Blog-Eintrag erzähle ich von unserem chinesischen Semester-Abschlusstreffen mit Mr. Rose, den hemmungslosen New Yorkern, einem unverhofft neuen Mitbewohner in meiner Gastfamilie, einer Woche Tourismus-Dasein in Manhattan, zwei Musikern mit besonderem Schiksal, die ich hier kennengelernt habe und die in New York auf die eine oder andere Weise festsitzen, und meinem ersten Dreh fürs Fernsehn mit allerlei Überraschungen.

 

 

14.06.2016

Hier kommt, wie versprochen, der nächste Blog-Eintrag. Im letzten war ich ja schon fast am Ende des Semesters angekommen, aber einige interessante Dinge gibt es noch zu berichten. Überhaupt weiß ja jeder, dass erst in den Semesterferien das Leben richtig losgeht... Aber der Reihe nach.

 

Feiern mit Professor: Ein asiatischer Abend

Zum Semesterende wollte Mr. Rose ein Abschlusstreffen mit Abendessen für seine Klavierklasse veranstalten, worüber ich mich sehr gefreut habe. Da die Klasse fast nur aus Chinesen besteht, planten wir zunächst, uns in einem guten Restaurant in Chinatown zu treffen. Schließlich entschied er aber, auch auf meine Initiative hin, dass wir uns doch besser bei ihm zu Hause treffen. Das ist nicht so weit, da stört keine Musik, man wird nicht rausgeworfen und gemütlich ist es außerdem. In Chinatown war ich seitdem trotzdem einmal mit einer chinesischen Freundin. Sie sagt, es sieht dort genauso aus wie in China, und das Essen war superlecker und für New Yorker Verhältnisse auch sehr günstig. Ich weiß jetzt auch, was "Danke" auf Chinesisch heißt: "Sh-sh".

Aber zurück zum Thema: Rose schickte die "chinesische Delegation" mit seiner Kreditkarte um die Ecke zu einem asiatischen Restaurant mit dem Auftrag, Essen einzukaufen. Ich fühlte mich nicht angesprochen und habe bei ihm zu Hause gewartet, wo wir uns etwas unterhalten und dazu etwas getrunken haben, was so ähnlich schmeckte wie Bier.

Der Abend wurde sehr lustig und fröhlich, und das Essen war wirklich lecker. Jeder hat erzählt, warum er / sie Klavier spielt ("meine Mutter fand, ich sah aus wie ein Junge, also sollte ich Klavierspielen, vielleicht hilft's ja") und die Chinesen haben versucht, sich beschreibender Weise durch die 22 Provinzen und Gebiete Chinas zu erklären, wir kamen aber nicht einmal bis zehn. Irgendwann, sehr spät am Abend, kam noch ein japanisches (?) Ehepaar vorbei, das unbedingt mit Rose sprechen wollte - Förderer oder sonstiges Verhältnis. Da gab es dann noch Whisky zum Bier, und während Rose sich mit seinem Altersgenossen unterhielt, stellten seine Frau und ich fest, dass sie Würzburg kennt und schon oft da war.

Die New Yorker und ihre Lautäußerungen

Mit Ende des Semesters kann ich sagen, dass ich in New York ganz gut angekommen bin. Inzwischen werde ich nicht mehr mit "Welcome to New York" begrüßt, sondern ich bin es, die Neulinge so willkommen heißt. So schnell kann es gehen! Immer öfter kann ich auch Antwort geben auf Fragen wie "In welcher Richtung ist die Fifth Avenue?" oder "Hält der Zug auch an Station X?". Nach dem Weg gefragt werde ich sowieso ständig, das ist mir schon an meinem ersten Tag in New York vor über einem Jahr passiert. Die New Yorker sind da anscheinend nicht so eitel. Wer nicht weiß, fragt. Und sobald man einen Stadtplan aus der Tasche zieht, kommt auch gleich jemand und bietet Hilfe an.

Gelegentlich erzeugt dieses spontane Fragen lustige Situationen. Einmal klopfte es zum Beispiel während meines Klavierunterrichts an die Tür. Mr. Rose öffnete. Draußen stand eine Frau und sagte in etwa: "Ich habe gehört, dass hier jemand Klavier spielt. Unterrichten Sie auch? Meine Tochter möchte Klavier lernen." Ich war fast überrascht, aber der Herr Professor blieb ganz ruhig und freundlich, redete kurz mit der Frau, gab ihr eine Telefonnummer von einem anderen Lehrer, und setzte dann in aller Seelenruhe meinen Unterricht fort.

 

Manchmal sind die Leute allerdings unbelehrbar. Ich fuhr einmal am späten Abend mit der U-Bahn nach Hause, als wie so oft ein Exemplar einstieg, zu dem man gerne Abstand halten möchte. Der Mensch war offensichtlich nicht ganz bei Sinnen, ob dauerhaft oder temporär oder beides gemischt, konnte man nicht so genau sagen... Es stellte sich jedenfalls für alle hörbar heraus, dass er in die falsche Richtung fuhr und in der falschen Bahn saß. Ein anderer Mitfahrer, dem ich so viel Geduld auch nicht unbedingt zugetraut hätte, erklärte ihm, wie er fahren musste. Der Falschfahrer verstand es nicht. Also erklärte er es nochmal. Er kapierte es immer noch nicht. Dritter Versuch. "Sie steigen in den Hauptbahnhof ein..." Der Kerl begriff einfach überhaupt nichts. Irgendwann rief der gutmütige Erklärer ganz verzweifelt: "Ich habe es dir jetzt sieben mal Erklärt, was soll ich machen?" "Bitte, nochmal". Also nochmal. Dann sind der Geduldige und ich ausgestiegen. Ob der Begriffsstutzige irgendwann noch angekommen ist oder ihm jemand anders geholfen hat, weiß ich nicht.

 

Die Menschen in der Bahn benehmen sich, wie die Autofahrer an der Ampel. Jeder beobachtet einen zwar, aber man denkt, keiner schaut hin. Es ist schon lustig, wenn bärige Männer mit ihrem Tablet dasitzen und Tetris spielen. Hätte sich vor 20 Jahren ein Geschäftsmann mit Gameboy in die Bahn gesetzt? Laut Durchsagen soll man keine "electronic devices" zeigen, sonst könnten sie ja geklaut werden. Und auch sonst ist die Metro nichts für Träumer oder Pechvögel. Ich bin einmal grade in der Sekunde durch die Tür gegangen, als diese mit Karacho zuschnellte und genau gegen meine Hand donnerte. Den Abdruck hat man mehrere Tage gesehen. Wenn das ein Kind gewesen wäre, hätte es wirklich schmerzhaft werden können.

 

Ansonsten liegt in den Metrostationen und auch auf den Bürgersteigen ziemlich viel herum, das die New Yorker dort verlieren, fallen lassen oder ablegen. Hauptsächlich natürlich Müll, den sie nicht drei Meter zum nächsten Mülleimer tragen. Ich habe einmal einen Schülerausweis gefunden und mitgenommen, um ihn zurückzugeben - und ihn schließlich aus Ratlosigkeit nach ein paar Tagen wieder dort abgelegt, wo ich ihn gefunden habe. Auf der Seite der Schule hab ich nämlich keine Kontaktmöglichkeit gefunden (tatsächlich...!) und auf Facebook keine Antwort der Schülerin erhalten. Danach habe ich noch Schlüssel, Brillen und anderes Zeug herumliegen sehen. Aber, falls ich es überhaupt aufhebe, lege ich es nur an die Seite oder eine prominentere Stelle. Am Ende werde ich es sonst nicht mehr los. Im Winter könnte man Handschuhe sammeln, bis man zwei gleiche gefunden hat, und sobald drei Regentropfen fallen, findet man an jeder Ecke kaputte Regenschirme. Leute, könnt ihr euren Müll nicht anständig entsorgen? Das Klischee, dass Amerikaner kein Umweltbewusstsein haben, trifft auf viele jedenfalls an diesem Punkt zu.

 

Meine Gastfamilie: Unverhofft kommt oft, und schon ist man einer mehr

Von meiner Gastfamilie habe ich schon länger nicht berichtet. Es ist nach wie vor alles bestens und man ist sehr großzügig und nachsichtig mit meiner "Arbeitszeit". Eliana hat sich nun sehr gut an mich gewöhnt, klettert gerne auf meinen Schoß (das neueste Spiel: Hoppe hoppe Reiter, mit Absturz in den Graben!) und würde am liebsten mein Zimmer auseinander nehmen. So viele spannende Sachen! Wenn die Mama nicht da ist, ist sie allerdings gerne rotzfrech und störrisch, vor allem, wenn sie ihren Willen nicht bekommt (Stichwort: Zähneputzen...). Sie scheint übrigens sehr gute Augen zu haben. Wenn sie auf dem Sofa sitzt und ich die Treppe herunterkomme und meine Lippen den Hauch eines dunkleren Farbtons angenommen haben, kräht sie: "Hast du Lippenstift?"

 

Seit ein paar Wochen gibt es in meiner Gastfamilie einen neuen Mitbewohner, den keiner bestellt hat, aber über den sich jetzt alle freuen. Eines Abends kam ich nach Hause und wurde angebellt. Zunächst dachte ich, dass wohl später Besuch mit Hund da sei, aber dann sah ich Friederike auf dem Boden sitzend mit einem verfilzten Stück Hund auf den Knien, dem sie gerade das Fell abschnitt. Der Hund soll auf unbestimmte Zeit bei uns bleiben, weil das Frauchen im Moment aus gesundheitlichen Gründen nicht für es sorgen kann. Inzwischen sieht es so aus, als würde er bleiben. Eigentlich heißt er "Angel", Eliana sagt aber immer "Jojo", weil sie mal einen anderen, ähnlich aussehenden Hund kannte, der so hieß, und ich sage meistens "Schnuffi", weil er aussieht, als hieße er Schnuffi. Das arme Tierchen war ganz verschreckt als es ankam, inzwischen ist es aber wieder lebendig und fordert immer, wenn es mich sieht, eine ausgiebige Knuddeleinheit ein. Wenn es die nicht bekommt, werde ich verfolgt wie von einem zweiten Schatten und im schlimmsten Fall angesprungen, sobald an meiner Haltung sowas ähnliches wie ein Schoß zu erkennen ist. Eigentlich ist Schnuffi aber ziemlich faul und begießt beim Spazierengehen alles, was irgendwie senkrecht vom Boden absteht.

Elterlicher Besuch

Kurz nach dem offiziellen Ende meines Semesters am 16. Mai besuchten mich für eine Woche meine Eltern. Ich habe eine Woche nicht geübt, dafür sind wir jeden Tag eine zweistellige Anzahl Kilometer durch New York gelaufen und haben uns zusammen alles, was wichtig ist, angeschaut. Brooklyn Bridge, Times Square, High Line (ein Park auf einer ehemaligen Hochbahn), Fahrt mit der Fähre, 9/11-Memorial, meine Uni, Central Park, Wall Street, Broadway, meine momentane Wohnung. Auch in diversen Museen waren wir und haben im Museum of Natural History das Skelett eines Riesendino gesehen, der erst 2014 in Südamerika ausgebuddelt wurde und deshalb noch nicht mal einen Namen / Bezeichnung hat. Er ist 37 Meter lang und war zum Zeitpunkt seines Ablebens noch nicht mal ausgewachsen. Auch eine Broadway-Show haben wir gesehen, also ein Musical. Das faszinierende an diesen Shows ist, dass pro Theatergebäude nur ein einziges Stück gezeigt wird und man deshalb aufwendige, fein geplante Effekte einbauen kann. Da kommen Elemente von oben hereingeschwebt, werden von der Seite hereingeschoben, wachsen aus dem Boden oder verschwinden wieder darin. Licht und Sound sind genau abgestimmt und alle beherrschen ihre Rolle gut.

Am Tag der Abreise haben wir morgens zusammen meinen Lehrer besucht und uns in einer Mischung aus Englisch und Deutsch unterhalten. Kurz danach hatte er noch ein Interview mit Radio Bremen, bei dem er mich mit dabeihaben wollte. Es sollte mein Schaden nicht sein - wenn meine CD fertig ist, darf ich mich dort melden. Im Gegenzug habe ich Rose ins bayerische Fernsehn gebracht - dazu gleich mehr.

New York - der Brodeltopf und seine bunten Kartoffeln

Ich habe in letzter Zeit öfter darüber nachgedacht, warum New York eigentlich so ist, wie es ist, und vor allem, warum alle es für das halten, was es ist und es damit erst dazu werden lassen. The Big Apple steht für: American Dream, Freiheit, Sei wer du sein willst, Werde, was du werden willst. Laufe im Gummikostüm auf der Straße herum, ohne angestarrt zu werden, und starte die Karriere deines Lebens, weil dich jemand in der U-Bahn angesprochen hat. Der Name der Stadt spricht für sich, es ist etwas Neues, und alle kamen hierher, um es anzufangen.

Deshalb kommen auch besonders viele von der anderen Sorte nach New York und welche, die zu überhaupt keiner Sorte gehören: Weil sie hier in Ruhe gelassen werden und andere Freidenker finden. Deshalb ist es hier so bunt und spannend, was wiederum auch gediegene Normalos anzieht, die ein bisschen Aufregung im Leben suchen. Und deshalb passiert hier auch so viel und die ganze Welt erfährt es. New York hat so viele unglaubliche, besondere und tragische Einzelschicksale und Geschichten zu bieten, dass man einen eigenen Fernsehkanal dafür einrichten könnte. Ein paar Beispiele:

 

Eine Studentin der Columbia University in New York behauptet, von einem deutschen Studenten vergewaltigt worden zu sein und trägt deshalb eine Matratze mit sich herum. Wie ich kürzlich gehört habe, wird der Student seit Jahren in den USA festgehalten, obwohl er als unschuldig gilt.

 

Eine junge Frau, ist aus Nordkorea geflohen und studiert jetzt in New York, wo sie zum ersten Mal festgestellt hat, dass es die Liebe gibt

 

Der Fotograf Brandon Stanton, fotografiert einfach so Passanten auf der Straße und erzählt ihre Geschichte. Er hat auf Facebook fast 18 Millionen Abbonenten, hat schon mehrere Millionen Euro Spenden gesammelt und ein offener Brief an Donald Trump wurde über zwei Millionen Mal geliked und über eine Million mal geteilt.

 

In den letzten Wochen und Monaten habe ich auch zwei bemerkenswerten Personen kennengelernt, von denen ich erzählen möchte.

 

New York als Ziel der Rettung

Seit dem Ende des Semesters habe ich einen neuen Klavierschüler mit einer ganz besonderen Geschichte. Eine meiner Dozentinnen fragte in ihrem Kurs, ob jemand Interesse habe und bereit sei, sich ab und zu mit zwei Musikern zu treffen, die allein und gestrandet in New York wären. Zwei junge, afghanische Flüchtlinge. Da ich prinzipiell am Neuen und Unbekannten interessiert bin, besondere Lebensgeschichten spannend finde, und da ich gerne anderen Menschen helfe, habe ich Ja gesagt. Zunächst kamen die beiden, ein Geiger und ein Pianist, zu meinem Semester-Abschlusskonzert, kurz darauf habe ich begonnen, den Pianisten (Milad) zu unterrichten. In Afghanistan wurde bis vor kurzem das Ausüben von Kunst und Musik mit dem Tod bestraft. Als Kind hat Milad sich darum eine Klaviertastatur auf Papier aufgemalt oder auf seinem Kopfkissen getrommelt, denn wäre er erwischt worden beim Musizieren, hätte er das nicht überlebt. Eine Weile war dann das Musizieren möglich, und seine Musikschule in Kabul hat plötzlich viele finanzielle Mittel und internationale Aufmerksamkeit bekommen - so viel, dass das Schüler-Orchester sogar zu einem interkulturellen Konzert in die Carnegie Hall eingeladen wurden. In den letzten Jahren wurde die Lebensgefahr aber in Afghanistan so groß, dass seine Familie, Freunde und Schüler gesagt haben: Du musst dich retten und überleben, damit du die Kunst weitertragen kannst. Eigentlich wäre Milad lieber bei seiner Familie geblieben, nutzte aber dann die Chance, als er zu einem Festival in die USA eingeladen wurde - und blieb.

 

Er erzählte mir, dass er mehrere Bombenanschläge, bei denen Freunde von ihm starben, nur durch pures Glück überlebt hat, weil er weit genug weg stand oder zwei Minuten später als früher dort vorbei kam. Es ist etwas ganz anderes, ob man davon in den Nachrichten liest, oder ob einem das jemand erzählt, der lebendig vor einem steht. Dann sagt er auch noch Dinge wie "Viele wissen gar nicht, dass wir ganz gewöhnliche Leute sind, ohne Bart und mit normalen Klamotten." und "Wenn mein Vater Christ gewesen wäre, wäre ich Christ. Wenn er aus Israel käme, wäre ich Jude." Deshalb solle man sich gegenseitig respektieren, denn wer man ist, sei auch in gewissem Sinne dem Zufall geschuldet. Das hat wohl sogar sein Vater erkannt, der vor zwei Jahren gestorben ist, denn die Namen seiner Söhne ergeben in Kombination übersetzt "Der Heiland ist geboren." Während des Ramadan fastet Milad trotzdem. Er hat sich übrigens im Namen aller Afghanen und überhaupt aller Flüchtlinge bei mir als Deutscher bedankt, dass Deutschland den Flüchtlingen ein Zuhause bietet und dass es so viele gute und freundliche Menschen gibt. Was soll ich da noch sagen?

 

Obwohl Milad auch ein guter Maler ist, gerne schreibt, verschiedene Instrumente spielt, dirigiert, die afghanische Volksmusik aufschreiben möchte und komponiert, gilt seine absolute Leidenschaft dem Klavier. Zur letzten Unterrichtsstunde brachte er zwei Eigenkompositionen mit, halb klassisch, halb afghanisch. Eine davon trug den Namen "Aylan". Sie ist dem kleinen Jungen gewidmet, der vor einigen Monaten tot am Strand fotografiert wurde und posthum stellvertretend für alle Mittelmeeropfer berühmt wurde.

Milad möchte in den USA Klavier studieren, hat kein Geld, wenig Erfahrung, spielt erst seit sieben Jahren Klavier und hatte hier keinen Lehrer. Der Lehrer bin jetzt ich, und ich lerne von ihm bestimmt so viel wie er von mir. Er hat, auch über die Dozentin, die den Kontakt hergestellt hat, sich auch schon mit Verantwortlichen von Mannes getroffen, die ihn gerne als Studenten aufnehmen würden. Ich hoffe, dass er es schaffen wird. Seine pianistischen Fähigkeiten versprechen Potential, aber im Moment fehlen ihm noch fast alle Grundlagen zum professionellen Spielen. In der letzten Stunde hat er die Pathétique-Sonate von Beethoven mitgebracht - allein am ersten Takt hätten wir stundenlang arbeiten können. Im März 2017 wird sich zeigen, wie es weitergeht und ob er besteht.

 

New York als goldener Käfig

Vor einer Woche spielte ich ein Hauskonzert mit dem Geiger Stefan Arzberger. Seine Geschichte ist genau gegenteilig zu der von Milad. Er ist als Musiker schon an der Weltspitze angekommen, hat sich aber nicht nach New York gerettet wie Milad, sondern lebt hier im goldenen Gefängnis. Seit fast anderthalb Jahren wartet er auf einen Prozess, der nicht in die Gänge kommt. Stefan wird des versuchten Mordes beschuldigt. Die Geschichte ist so skuril wie unglaublich, und es hat sich in Deutschland und anderswo bereits ein großer Kreis an Menschen gefunden, die ihn Unterstützen. Die Vermutung liegt nahe, dass er selbst nicht Täter, sondern Opfer ist. Das Internet ist voll von Artikeln und Spekulationen, hier gibt es eine Doku aus dem ZDF. Stefan spielt oft Geige in der deutschen Gemeinde, wo ich manchmal bin, aber er darf hier weder arbeiten, noch Ehrenämter annehmen, kann nur warten und hoffen. Ich kenne die Wahrheit nicht, aber mir und allen anderen Menschen begegnet er als sehr sympatischer und freundlicher Mensch, der überlegt handelt und spricht und eigentlich nur eines möchte: Als freier Mensch Geige spielen. Er beherrscht sein Handwerk auf höchstem Niveau und es ist ein Genuss, zuzuhören - noch schöner allerdings ist es, mit ihm zu spielen!

 

Am Samstag vor zwei Wochen rief er mich an und fragte, ob ich ihn spontan am Freitag (6 Tage später) bei einem Hauskonzert begleiten könnte. Könnte ich! Dummerweise nur hatte meine Uni am Samstag, Sonntag und Montag geschlossen (dafür gibt es die goldene Himbeere), so dass mir nur noch drei Tage zum üben blieben. Genau genommen waren es sogar nur anderthalb, da wir schon am Mittwoch proben wollten. Leider bin ich ja nicht mit beneidenswerten Blattspielfähigkeiten gesegnet worden (der Herr allein weiß, warum...), also habe ich mein Bestes gegeben, mich ordentlich vorzubereiten. Zum Glück spielten wir keine schwere Literatur in jeglichem Sinne, denn eine Mozartsonate hätte ich nicht so verhunzen wollen, und eine Franck-Sonate hätte ich in drei Tagen überhaupt nicht üben können - es waren überwiegend hübsche Salon-Piecen à la Fritz Kreisler.

 

Das Konzert fand bei einem singalesischen Investmentbanker mit eigener Terrasse und Angestellten statt. Mich überrascht hier inzwischen überhaupt nichts mehr. In seinem Partykeller stand eine Musikanlage, die laut Stefan 120.000 Euro wert ist und normalerweise in Tonstudios zu finden ist, wenn überhaupt. Den Steinway-Flügel hatte er extra für das Konzert angemietet und liefern lassen. Außer uns trat noch eine deutsche Sängerin auf, die ich ebenfalls schon aus der Gemeinde kannte. Später gab es noch Jazz-Musik, da spielte unter anderem ein junger Pianist. Aus mir zunächst unerfindlichen Gründen hatte sein Gesicht meine Aufmerksamkeit erregt, aber da ich mir Gesichter nicht merken kann, habe ich das auf mein verwirrtes Gehirn geschoben. Später sprach er mich an - und wir fanden heraus, dass wir uns zu Beginn meines Studiums schonmal bei der Studentenorganisation "One to world" begegnet waren. Damals hatte er noch Dreadlocks, und wir haben uns auch nur zehn Minuten unterhalten. Die Musikerwelt ist winzig wie ein Schokomuffin!

Das Konzert war einigermaßen erfolgreich dafür, dass ich nur ungefähr 1% der gewöhnlichen Vorbereitungszeit hatte und wir nur zweimal kurz geprobt haben, das Essen war lecker und die Begegnungen interessant. Wer jetzt denkt, dass sich damit meine restliche Studienfinanzierung erledigt hat, den muss ich leider mit der harten Realität konfrontieren: Gage gab es keine.

Der nächste Plan ist, dass wir im Juli auf einer Jacht spielen, für die allerdings noch ein Flügel organisiert werden muss. Mich überrascht, wie gesagt, gar nichts mehr. Schau 'mer mal, dann seh 'mer schon. In der deutschen Schule könnten wir im Spätsommer oder Herbst auch spielen - allerdings hoffen wir eigentlich, dass Stefan bis dahin schon "entlassen" ist. Meine persönliche Lehre aus der Geschichte: Im öffentlichen Raum immer gut auf die eigenen Getränke aufpassen. Wenn einem jemand in einem unbeobachteten Moment etwas reinschüttet, was nicht hineingehört, kann sich das ganze Leben schlagartig ändern.

Anne kommt ins Fernsehn

Zum Schluss dieses langen Blog-Eintrags noch eine durch und durch schöne, lustige und interessante Geschichte, die hauptsächlich mich selbst betrifft. Am vergangenen Donnerstag war ich mit dem Fernsehen verabredet. Vor einigen Wochen hatte mich über meine Website eine Nachricht erreicht mit der Anfrage, ob ich an einem kleinen TV-Porträt Interesse hätte. Bittesehr, da sage ich nicht nein! Ich traf mich also zu einer ersten Besprechung mit Alexandra vom BR, die sich vorstellte mit "können wir uns setzen, ich bin ein bisschen schwanger". Ich hatte zunächst angenommen, dass sie die Artikel in den PianoNews gelesen hatte. Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht: Ihr Lebensgefährte, der inzwischen mit ihr in New York lebt, kommt ursprünglich aus Bad Neustadt. Dessen Vater hatte einen Artikel über mich in der Mainpost gelesen und seiner Schwiegertochter in Spe abfotografiert. Diese Presseleute haben ihre Ohren auch wirklich überall :-) Das Porträt sollte zunächst nur zwei Minuten dauern, später wurde es auf immerhin fünf verlängert, und wird in einer Frankenschau am Sonntagabend ausgestrahlt [welche ich noch nie gesehen habe]. Laut Alexandra sind die Einschaltquoten gut, weil die Leute sich bewusst entscheiden würden, regionales Fernsehen zu gucken - aha. Ich werde zu gegebener Zeit einen Link zur Mediathek posten. 

 

In meinem Leben habe ich noch nie vor der Kamera gestanden, es war gerade am Anfang ein besonderes und ungewöhnliches Erlebnis. Zunächst hatten wir das Problem, dass wir die "Funkstrecke" (Headset) nirgendwo an meinem Kleid befestigen konnten. Nach einigen ratlosen Minuten fiel mir dann ein, dass eine kleine Handtasche es wohl auch tun würde. Wir begannen in meinem Zimmer in Harlem, arbeiteten uns dann vor über die Straße bis zur U-Bahn, waren bei meinem Klavierlehrer zu Hause und in meiner Uni. In der Uni stand uns tatsächlich ein Aufpasser zur Seite (..."Drehgenehmigung"...), der eine Stunde vor der Übezelle saß, die Alexandra wahnsinnig spannend fand. So ein großer Flügel in so einem kleinen, fensterlosen Räumchen! Wir stellten fest, dass der Tag schon vorüber war und verabredeten uns für Freitag erneut. Ganz schön viel Aufwand für fünf Minuten.

 

Am Freitag ging alles schief, was schiefgehen kann. Erst blieb meine U-Bahn stecken und ich war eine Viertelstunde zu spät. Dann hatte Alexandra die Tasche mit Funkstrecke, Objektiv und Anschraub-Platte für das große Stativ vergessen. Das Stativ selbst hatte sie auch vergessen, allerdings hat ihr das ihr lieber Freund durch ganz Manhattan nachgetragen. Wir filmten also zunächst mit dem, was da war, dann wartete ich ein bisschen im Park auf sie, während sie den Rest von zu Hause holte.

In dieser Zeit des Wartens gedachte ich, ein paar liebe Freunde und Familienmitglieder aus Deutschland anzurufen. Das war um kurz nach 11 Uhr, also zwischen 17 und 18 Uhr in Deutschland. Von den 10 Leuten, die ich anrufen wollte, ist keiner rangegangen, inklusive meiner 91-jährigen Oma. Was seid ihr alle beschäftigt!

 

Schließlich kam Alexandra wieder, und das Warten hatte sich als Glück herausgestellt: Wir fanden nämlich ein Klavier im Park vor dem Flatiron Building (sic!), an dem jeder einfach spielen konnte. Was für ein gefundenes Fressen für dieses Filmchen. Dann machten wir uns auf den Weg zum Central Park. Unterwegs verlor sie noch ihre Kamerakappe, wir stiegen zweimal in den falschen Zug und wurden im Park von Senioren-, Schüler- und Touristengruppen belagert. Außerdem war es manchmal so windig, dass meine Hände damit beschäftigt waren, mein Kleid an Ort und Stelle zu halten und die Haare aus dem Gesicht zu streifen.

Alles in allem hat es aber gut geklappt und war sehr kurzweilig. Die meiste Film-Zeit bestand darin, dass ich hier laufen und dort vorbeigehen sollte, nochmal vor anderem Hintergrund dieselbe Frage beantworten, nein, Licht war schlecht, ne, anderes Objektiv, ach, bitte etwas kürzer antworten, oh, könntest du noch dies sagen und jenes weglassen. Ich hoffe, sie sucht sich nicht meine schwächsten Momente aus.

 

Der Beitrag läuft aller Voraussicht nach am Sonntag, den 3. Juli, 18 Uhr, Frankenschau, im BR Fernsehn. Kleiner Tipp: Bad Neustadt wird auch zu sehen sein, Alexandra und ich fliegen nämlich zufällig zeitgleich nach Deutschland...

[Update: Inzwischen sind die Beiträge mehrfach gelaufen, das BR hat sie auch auf Youtube hochgeladen. Ich habe sie auf meine Website gestellt.]

Lustig ist, wie die Menschen reagieren, wenn man mit Kamera herumläuft. Manche latschen mitten durchs Bild, andere erstarren, als stünde der Pabst vor ihnen. Sie stehen und warten, dass sie vorbei dürfen, bis man sie gnädig gewähren lässt. Wir wurden gefragt ob wir Französinnen oder Schwedinnen sind, ob wir Hebräisch sprechen, ob ich ein Model bin (?), ob wir eine Doku drehen, und eine Sängerin mit Geige auf dem Rücken hat in der U-Bahn einfach ganz ohne Umschweife unsere Handynummern haben wollen (hat sich aber nicht gemeldet).

Zwei Freundinnen von Alexandra habe ich auch noch kennengelernt. Sie wollen alle zusammen eine andere Doku über den Broadway drehen und haben mich gefragt, ob ich dafür Musik komponiere und spiele. Ich hab einfach mal Ja gesagt. Man weiß ja nie, was einem in New York so alles passieren kann.

 

So, nun sind wir wieder in der Gegenwart angekommen, und in einer guten Woche werde ich mich schon auf den Weg nach Europa machen. Vom 23. Juni bis 3. Juli bin ich in Bad Neustadt und / oder Würzburg anzutreffen, danach fliege ich nochmal nach New York, um am Festival meines Lehrers teilzunehmen. Im August bin ich dann wieder zurück in Deutschland, um schließlich im September die zweite Hälfte meines Masterstudiums in New York wieder aufzunehmen.

 

Ich warte noch auf ein paar amerikanische Vorurteile von euch! Oder habt ihr keine? Um so besser. Aber dann muss ich mir selbst welche ausdenken... In jedem Falle:

 

Herzliche Grüße aus New York!

 

 

PS: Wer sich schon immer gefragt hat wie ein mit Münzen präpariertes Klavier klingt - ich habe vorhin ein Video gefunden, das ich nach einer Probe mit einem der verrückten Ensembles aufgenommen habe!

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    M. (Mittwoch, 15 Juni 2016 09:15)

    Hier kommen ein paar "Vorurteile":
    Ein hoher Anteil der amerikanischen Bevölkerung ist sehr fettleibig, das kommt vom Fastfood.
    Die Amis sind Waffennarren, gaanz viele tragen eine Knarre mit sich herum.
    Sie interessieren sich nur für ihr eigenes Land, sind wenig informiert über Europa und andere Kontinente.
    "Der Ami" ist oberflächlich freundlich, denkt nicht so viel nach und sucht nach schnellen Lösungen, Nachhaltigkeit ist eher kein Thema.
    Die meisten Amerikaner sind sehr religiös bzw. christlich orientiert und gehen regelmäßig in eine Kirche, es gibt erschreckend viele, die dabei fundamentalistisch denken.
    Rassentrennung ist überall zu sehen, die niederen Jobs machen Schwarze und Hispanics.
    Noch was Positives zum Schluss: in USA kann jeder alles werden, vom Tellerwäscher zum Millionär, man muss nur die Ärmel hochkrempeln und das Glück beim Schopf packen.

  • #2

    Franzi (Mittwoch, 15 Juni 2016 23:12)

    "Die Amis sprechen keine Fremdsprachen." Gehört aber nicht in die Rubrik Vorurteile, denn es stimmt ;-)

  • #3

    Wolfgang (Samstag, 18 Juni 2016 11:46)

    Hallo Anne,
    es war mal wieder eine spannende Reportage aus einer "anderen" Welt. Fasziniert haben mich nicht zuletzt die Fotos Deines Zimmers: wahrscheinlich der "american dream" eines jeden kleinen Mädchens :-) Bleib ruhig noch ein paar Jährchen in New York, damit Du uns mit Lesevergügen versorgen kannst.
    Liebe Grüße