2 Einmal geballte Kultur, bitte

 

 

Dieses Mal: Von sechs Wochen Rachmaninov, dem Mann mit Steinway in der Upper East Side, zwei rechten Schuhen, lustigen Rollenspielchen in der Uni, ein paar wechselhaften Konzerterlebnissen, einer sehr stressigen E-Mail, einem Polizeieinsatz im Hausflur und meinem nächsten Auftritt in der Carnegie Hall.

 

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Rachmaninov had big hands

Nachdem ich Deutschland verlassen hatte, begann für mich ab dem 1. Februar in New York eine Zeit beispielloser Übeanstrengung. Am 14. März sollte an meiner Uni ein Wettbewerb stattfinden, bei dem alle Instrumente um einen Auftritt mit dem Hochschulorchester konkurrierten. Für die meisten Instrumente waren je zwei Konzerte zur Auswahl vorgegeben. Für Klavier die Rhapsody über ein Thema von Paganini von Rachmaninov sowie ein zeitgenössisches Konzert eines Komponisten namens William Bolcom. Bei der Bekanntgabe der Stücke letzten September hatte ich beschlossen, nicht teilzunehmen, um mich auf Solorepertoire zu konzentrieren. Wie die Wochen ins Land strichen und ich mir das Stück immer wieder angehört hatte, kamen mir aber Zweifel an meiner Entscheidung. Zwar ist die Chance, bei allen konkurrierenden Instrumenten zu gewinnen, eher klein. Es ist aber ein prima Anlass und Ansporn, so ein Konzert zu üben und es dann im Repertoire zu haben.

 

Ende Oktober also entschied ich: Ich mache doch mit, und meldete mich für den Wettbewerb an. Leider hatte ich bis Weihnachten nur wenig Zeit für Rachmaninov übrig, da ich mit anderen Stücken beschäftigt war, unter anderem für meine Bewerbung für ein DAAD-Stipendium (dazu später mehr...). Als ich im Januar in Deutschland war, konnte ich mir auch etwas Besseres vorstellen, als stundenlang in der Übezelle zu sitzen. Und so kam es, dass mir noch sechs Wochen blieben, um den Großteil des Stückes einzustudieren.

Zwar dauert dieses einsätzige Klavierkonzert nur 25 Minuten. Dummerweise aber ungefähr die schwierigsten 25 Minuten, die ich je vor der Nase hatte. Die Anforderungen an die Klaviertechnik und die Gedächtnisleistung des Auswendiglernens sind enorm. Aber ich dachte - mal sehen, was möglich ist, wenn man sich wirklich anstrengt. Vom 1. Februar bis zum 14. März habe ich fast jeden Tag sieben bis neun Stunden Rachmaninov geübt, bis entweder meine Konzentration, meine Arme oder der Tag am Ende war. Meistens war es der Tag. Ich kam als eine der ersten in die Uni und ging als eine der letzten. Einen Tag machte ich Pause - am President's Day hatte die Uni nämlich geschlossen.

 

Der Rachmaninov ist ein Übezeit-Fresser. Man übt sechs Stunden und hat das Gefühl, es hat sich nichts verändert. Irgendwann geht es doch - und ein paar Tage später ist der Fortschritt scheinbar wieder weg. Zusätzlich zum Üben hatte ich noch meine Fächer inklusive Hausaufgaben und dazu alles, was man sonst noch zum Überleben tun muss. Friederike war zum Glück sehr nachsichtig mit meinen Präsenzphasen und Babysitting, besonders oft hat mich meine Gastfamilie in diesen Wochen nicht zu Gesicht bekommen.Am Montag, den 14. März schließlich war der Wettbewerb.

Da das hier kein Roman ist, nehme ich mal die Spannung vorweg: Gewonnen habe ich nicht. Jedenfalls nicht den Wettbewerb. Wie mein Lehrer prophezeit hat, hat die einzige Pianistin gewonnen, die das unbekannte Bolcom-Konzert gewählt hat, außerdem noch eine Harfenistin. Ich bin mir sicher, dass die Pianistin hervorragend gespielt und verdientermaßen gewonnen hat. Gleichzeitig weiß man aber auch, dass Mannes mit Bolcom zu tun hat und es sehr gut ins Bild passt, wenn zufällig sein unbekanntes Konzert vom Mannes-Orchestra aufgeführt wird. Wäre Rachmaninov über unsere Flure spaziert - - - den Satz kann sich jeder selbst zu Ende denken.

Allerdings: Meinen persönlichen Wettbewerb habe ich sehr wohl gewonnen! Nach vier Wochen konnte ich das Stück auswendig, und bis zum Stichtag konnte ich es schön und überzeugend spielen. Mein Lehrer, Prof. Rose hatte mich wenige Wochen zuvor ausführlich darüber aufgeklärt, dass man auf keinen Fall spielen soll, wenn man ein Stück nicht sehr gut kann, weil ein schlechter Ruf einem vorauseilt (und dass ich doch bestimmt auch deutsche Pianisten kennen würde mit dem Ruf, schlecht zu spielen - ohne dass ich mir je eine eigene Meinung hätte bilden können? Ja, stimmt.). "Are we dreaming [about Rachmaninov]?" Aber ich konnte ihn überzeugen und schließlich hat er geklatscht und gesagt, ich soll spielen. Obwohl ich in besagter Stunde vor Müdigkeit kaum noch geradeaus gehen konnte, bin ich fast zur Tür hinausgeschwebt :-)

Für eine bessere, "gewinnbringendere" Darbietung im Wettbewerb hätten mir drei Dinge gefehlt: 1. mehr Auftrittsmöglichkeiten mit diesem Stück, 2. Zeit, damit die ganzen Noten ins Hirn einsickern können, 3. Ein besserer Begleiter am zweiten Klavier. Der meinige kann zwar alle 24 Chopinetüden, bezeichnet das Klavierkonzert von Tschaikowsky als "the easiest one I've ever played" und den Rachmaninov als "easy". Leider konnte er aber das Tempo nicht halten und hat nicht besonders gut beglitten. Ein Freund von mir konnte übrigens einen ähnlichen persönlichen Erfolg verzeichnen: Er hatte sich kurz vor Weihnachten den kleinen Finger gebrochen und trotz langer Übepause ebenfalls am Wettbewerb teilgenommen. Yes, we can, grins.

 

Ich muss aber zugeben: So einen Übestress brauche ich im Leben nicht mehr. Ich schätze, dass ich an dem Stück insgesamt um die 350 Stunden geübt habe, wovon ungefähr 300 in den Februar und Anfang März gefallen sind. Das bringt einen durchaus an die Grenze der verfügbaren Kraft. Nachdem der Wettbewerb vorbei war, musste ich mich erst einmal ein paar Tage vom Klavier fernhalten, ausruhen und andere Dinge erledigen. Es ist aber gut zu wissen, was ich in welcher Zeit schaffen könnte, falls es irgendwann einmal drauf ankommt. Als nächstes werde ich mich nun den Stücken widmen, die ich im Sommer für meine erste Solo-CD aufnehme. Es werden Kompositionen von Haydn, Ravel, Chabrier, Ravel, Borodin, Ravel, Couperin und Ravel sein. Man darf also gespannt sein. Zu gegebener Zeit mehr dazu.

Reger Reger und Aufreger

Obwohl ich die meiste Zeit allein mit Sergej Sergejewitsch verbracht habe, gab es auch die eine oder andere Abwechslung, über die ich berichten kann. Da wäre zum Beispiel die Geschichte zu Max Reger. Max Reger war ein komischer Kauz, der einen Haufen komische Musik komponiert hat, das letzte Mal vor 100 Jahren. Weil so ein Jubiläum immer ein guter Grund ist sich mit Komponisten zu beschäftigen, um die man sonst lieber einen Bogen macht, wurde ich für ein Gedenkkonzert im Deutschen Konsulat eingeteilt. Der Organisator und Katalysator des Konzertes heißt Donald Wagner. Mr. Wagner ist einer der wichtigsten Geldgeber von Mannes, verdient  im Finanzviertel von New York mehr Geld, als er jemals ausgeben könnte und interessiert sich für Randkomponisten der Romantik. Seine Kinder sind beide "Mannes Prep[aratory] Students". Die Tochter mit Klavier und Cello.Mr. Wagner möchte ernst genommen werden und hat darum sämtliche Studenten, die bei seinem Reger-Konzert spielen sollten, in sein gigantisches Apartment in der Upper East Side [teuerste Wohngegend von Manhattan] eingeladen.

Ich war die erste.

 

Wir haben per E-Mail einen Termin ausgemacht und ich kam zur angegebenen Adresse. Die Tür wurde von drei Doormen bewacht, die kontrollieren, wer das Gebäude betritt. Einer davon hatte die Aufgabe, die Bewohner anzurufen, um meine Audienz anzumelden. Ich lief also zu einem der vielen Aufzüge und landete in einem sehr kleinen Flur mit zwei Türen, von denen vermutlich eine die zum Treppenhaus und die andere die Wohnungstür war. Als ich schon nach der Klingel suchen wollte, weil ich befürchtete, dass man mich hier vergessen hatte, öffnete ein Mann in Hausschlappen und mit Halbglatze die Tür, der irgendwie kleiner war als ich es vom reichsten Mann, dem ich je begegnet war, angenommen hatte. Ob ich wohl die Schuhe ausziehen könnte? Klar doch. Zu trinken wurde mir nichts angeboten. Stattdessen wurde ich durch einen gigantischen Flur zu einem Wohnzimmer geführt, in dem ein Steinway B einigermaßen klein aussah. Kunst an den Wänden, aufgeräumt wie im Musterhaus, alles vom Feinsten.

 

Ich spielte also meine drei Stückchen, die zwar krachschwer sind, im Gegenzug aber umso langweiliger klingen. Mr. Wagner meinte, mir noch ein paar Verbesserungsvorschläge mit auf den Weg geben zu müssen und mir seine Lieblings-Einspielung vorzuführen (die ich schon kannte noch langweiliger fand als die einzige andere, die Youtube noch zu bieten hat).

Eine Stunde später war ich wieder draußen. Mr. Wagner war höflich und freundlich, aber sehr unnahbar und nicht an Gesprächen interessiert, die über den Zweck des Zwecks hinausgingen. Mein stolzer Gedanke: Auch mit allem Geld der Welt kann man sich nicht die Fähigkeiten und Fertigkeiten kaufen, die seine einbestellten Studenten haben.

 

Am 25. Februar war das Konzert im deutschen Konsulat. Es gibt dort einen kleinen Konzertsaal mit einem recht guten Steinway-Flügel. Das Konzert war aufwendig moderiert. Mit Power-Point-Präsentation, unterhaltsamen Anekdoten und biographischen Infos führte Mr. Wagner durch das Konzert. Verschiedene Instrumente (meist jedoch Klavier) spielten durch das Werk Max Regers. Mr. Wagner brillierte sogar kurz selbst, als er seine zwölfjährige Tochter am Cello begleitete. Die arme war wahnsinnig aufgeregt. Wir armen Studenten waren auch aufgeregt, aber uns hat man es nicht so angemerkt. Und ich dummes Schaf hatte zwar nicht zwei linke Hände, dafür aber zwei rechte Schuhe eingepackt! Gottlob hatte ich schwarze Straßenschuhe und ein langes Kleid an und keiner hat es gemerkt.

Lustig war außerdem die Bemerkung einer Dame im Publikum, mit der ich vor Konzertbeginn kurz sprach. Sie griff mir in die (vom vorherigen Flechten) lockigen Haare und fragte, ob das meine eigenen seien? Tatsächlich sieht man hier in der U-Bahn öfter mal Gitternetze im Scheitel der vor einem sitzenden Frauen. Nach dem Konzert gab es noch einen großzügigen Empfang im Foyer, und sogar mein Lehrer Jerome Rose war zum Konzert gekommen. Es wurde auch gefilmt - bisher konnte ich aber noch nicht an das Video gelangen. Allerdings habe ich mich gleich mit dem Aufnahmeleiter angefreundet und denke, dass ich nur noch etwas Geduld haben muss bis ich sie bekomme. Vielleicht werde ich sogar mal einen Klavierabend im Konsulat spielen.

Benotet wird die Anwesenheit

Mein Studium geht so ähnlich weiter, wie es letztes Jahr aufgehört hat. Der Theorie-Kurs ist beendet, dafür habe ich jetzt einen Analyse-Kurs bei derselben Professorin. Sie verlangt sehr viel und ist streng, ich musste schon mehrere Essays über Beethoven-Sonaten schreiben. Dafür lerne ich wirklich etwas Neues und Nützliches, z.B. über die Sonatenhauptsatzform, und man darf jede noch so dämliche Frage stellen. Weiß jemand was ein "Cesura Fill" sein soll? Bemerkung von Prof. Rogers: Klingt zwar essbar, ist es aber nicht. "Cesura Fill" ist eine mit Tönen ausgestaltete "Medial Cesura". Die wiederum ist die Pause, die man meistens vor dem Beginn des Seitenthemas findet. Sie ist funktionell immer da, nur manchmal eben nicht mit Stille, sondern mit Tönen angefüllt. Gut zu wissen, nicht wahr?

 

Weiterhin bin ich nach wie vor in meinem Improvisationskurs, diesmal mit Viola und Flöte. Wir spielen im Moment hauptsächlich indische Rags. Das sind, kurz gesagt, modale Improvisationen von einem oder mehreren Instrumenten, auch Stimme oder Percussion, die sich immer weiter in die Höhe steigern. Sowas kann schonmal eine halbe Stunde dauern. Der Zweck ist, verschiedene Möglichkeiten der Improvisation auszuprobieren.

 

Außerdem habe ich meinen Pädagogik-Kurs als Vorbereitung für meine Fellowship Teaching Position nächstes Jahr. Wir sind nur zu dritt und unterrichten uns manchmal gegenseitig - wobei die zwei "Schüler" vorher Kärtchen ziehen dürfen, auf denen z.B. steht "Schüler versteht nicht, warum er diesen Kurs belegen soll" oder "Schüler gähnt die ganze Zeit" oder "Schüler hat zu allem eine Frage". Das ist sehr lustig und lehrreich! Wir werden Gruppenunterricht für Anfänger oder wenig fortgeschrittene Erstsemester geben - an E-pianos. Außerdem unterrichten wir nicht nur Literatur, sondern auch Skalen, Bachchoral-Spiel, Sequenzen und so weiter. Einmal die Woche, 55 Minuten um acht Uhr morgens. Ich werde berichten...

 

Dann habe ich ein Fach namens "The entrepreneurial Musician", also der Musiker als Unternehmer. Die Frau, die das Unterrichtet ist sehr verrückt, aber interessant, gut organisiert und begeisterungsfähig. Wir sprechen über Geld und wie man damit umgeht (besonders, wenn man keines hat, haha), wie man mit Leuten in Kontakt tritt, wie man aus der Masse heraussticht und ähnliches, und es ist wirklich spannend und hilfreich. Obwohl ich in meiner grenzenlosen Bescheidenheit durchaus sagen kann, dass ich nicht weniges davon sowieso schon anwende. Wir müssen Hausaufgaben machen in Form von Essays zu bestimmten (meist praxisnahen) Themen und ein Abschlussprojekt - da werde ich meine CD-Vorbereitung hernehmen.

Schließlich habe ich noch ein Vorspiel-Fach, wo wir uns gegenseitig vorspielen und der Professor auch Tipps gibt. Etwas langatmig, aber nötig und hilfreich. Er hat ganz ohne Umschweife erklärt, dass man in diesem Fach für Anwesenheit benotet wird. So läuft das in Amerika.

 

Mein modernes Trompete-Gitarre-Klavier-Trio ist auf ein Quartett angewachsen, die Gitarre hat sich verdoppelt. Bisher ist noch nicht wahnsinnig viel passiert, weil die anderen drei nicht so zuverlässig sind und ich wegen Rachmaninov wenig Zeit hatte und mich auch nicht drum gekümmert habe. Vielleicht in Zukunft mehr. Zwei von uns haben improvisatorische Stücke für das Ensemble komponiert. Die Trompeterin ist nach einer Unterhaltung in meiner Bewunderungsskala bis ganz oben gestiegen. Sie erzählte mir, dass ihre ganze Familie drogenabhängig / süchtig ist, nur sie nicht, und dass das Trompeteüben und die Musik sie gerettet haben. Sie hat sich unheimlich reingehängt und angestrengt, um studieren zu können und hat es geschafft. Dagegen hat man mir ja quasi alle Türen aufgehalten.

 

Zur Entspannung vom Lesen: Hier eine kleine Bilderserie, die ich vor drei Tagen in New York aufgenommen habe. Rostige Skelette New Yorks.

Konzerte, Theater, Gemälde - Ein kritischer Überblick

Ich würde gerne noch viel mehr vom Kulturleben New Yorks mitnehmen als ich es schon tue. Ein paarmal war ich aber auch in den letzten Wochen außerhalb des Überaums unterwegs bei sehr unterschiedlichen Veranstaltungen: Einem ganz grässlichen Klavierabend, einem Chopin-Klavierkonzert meiner Kommilitonin mit furchtbarem Orchester, einem traumhaften Meisterkurs bei der Mozartspezialistin Mitruko Uchida, einem sehr schönen Konzert der New York Philharmonic mit Bartóks Violinkonzert, einem Theater-Abend des Drama-Departments meiner Uni, einer wunderschönen offenen Probe der New York Philharmonic, einem Konzert mit einem deutschen Streichquartett, bei dem ich nach der Hälfte gegangen bin, und einem Besuch im berühmten Kunstmuseum MOMA. Der Reihe nach:

 

Den Klavierabend spielte Ian Hobson in einem Gebäude des Lincoln Center. Er spielt dort eine ganze Reihe von Konzerten mit Préludes, Etüden und Variationszyklen verschiedener Komponisten. Das Konzert wurde eröffnet von den (meiner bescheidenen Meinung nach) nur mäßig spannenden, dafür krachschweren Variationen über "La ci darem lamano" von Chopin. Ich merkte, dass es etwas bemüht klang, kenne das Stück aber nicht in Einzelheiten und war noch guten Mutes. Als nächstes spielte er Debussy Préludes. Ich fand sie ganz nett. Mein Begleiter Dan, der sie heiß und innig liebt, wollte nach der Pause gehen, weil er sie so abgrundtief schlecht fand. Ich war auf die zweite Hälfte, Rachmaninov-Etüden, neugierig, also blieben wir. Da wurde das ganze Ausmaß deutlich. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass ich sämtliche der Etüden noch nie so schlecht gehört habe. Da wurden Teile weggelassen, Transparenz war ein völliges Fremdwort ebenso wie Kontrapunktik, Melodik oder Dynamik. Es ist mir ein Rätsel wie dieser Mann es ins Lincoln-Center geschafft hat. Laut Biographie hat er früher Wettbewerbe gewonnen und sitzt heute in Jurys. Dan war aber ganz happy: "If he can make it, we can make it, too!"  Allerdings hat er sich bei mir dafür entschuldigt, mich zu dem Konzert mitgeschleppt zu haben.

 

Das Klavierkonzert ist schnell erklärt - meine Kommilitonin, die im Lern-Englisch-Vorbereitungsjahr ist, hat den Mannes-Next-Wettbewerb gewonnen und durfte mit dessen Laienorchester spielen. Es war fast kein Publikum da und das Orchester war grauenhaft. Trotzdem eine gute Erfahrung für sie und ich bin aus Solidarität bis zu ihrem Auftritt geblieben.

 

Schließlich durfte ich bei einem Meisterkurs von Mitsuko Uchida in den Räumen der Carnegie-Hall zuhören. Sie unterrichtete vier Studenten, von denen jeweils zwei dasselbe Mozart-Konzert spielten und sich gegenseitig begleiteten. Es ist schon erstaunlich, wie sehr man Studenten ihre Nationalität und damit die Klavierschule anhören kann, die sie durchlaufen haben. Zu den beiden Asiatinnen, die keinen einzigen falschen Ton gespielt hatten (und auch insgesamt auf einem sehr hohen Niveau) sagte sie, sie sollen doch ein bisschen weniger richtig spielen, sonst wäre es so langweilig. Grundsätzlich ist diese zierliche Frau eine hervorragende Musikerin, wie sie auch demonstriert hat. Sie versteht es wirklich, was es heißt, Mozart mozärtlich zu spielen, ist sehr freundlich, humorvoll und überhaupt nicht angsteinflößend, dafür ein rieses Energiebündel. Sehr toll fand ich auch, dass sie sich gegen romantische Gesten bei Mozart gewehrt hat (gewisse Rubati und komische Dynamik etc.), das mag ich nämlich auch überhaupt nicht.

 

Die New York Philharmonic spielen wirklich sehr schön. Ich glaube, die sind so gut, die könnte sogar ich dirigieren. Hinstellen reicht, dann fangen die schon von allein an.  Von Mannes gibt es manchmal Karten zu ergattern, und so kam ich in den Genuss einer Dvorák Sinfonie und dem etwas schwer verdaulichen Violinkonzert von Bartók mit Baiba Skride (Geige) und Christoph Eschenbach (Stöckchen). Am besten gefallen haben mir die paar Sekunden mit Vierteltönen im Violinkonzert. Dvorák ist mir etwas zu seicht, wie gesiebter Tschaikowsky... (Bitte, steinigt mich nicht).

 

Toll war auch die offene Probe am Saint Patrick's Day (nein, ich hab mich nicht grün angezogen, nein, ich hab mir keine Parade angeschaut), die so gut besucht war wie ein Konzert. Ich war wahnsinnig beeindruckt von einem Stück namens "Karawane" des Komponisten Esa-Pekka Salonen, der persönlich anwesend war. Es dauerte eine halbe Stunde und war für großen Chor und großes Orchester (gibt es auf Youtube). Obwohl es nicht wirklich tonal war, hatte es eine tonale oder harmonische, rhythmische und formelle Struktur und hat mir mehrere Gänsehautmomente beschert. Ich bewunderte sehr den Chor, der clustermäßig irgendwann irgendwie einsetzen musste. Die "The Age of Gold" Suite von Schostakowitsch war auch sehr schön, ebenso das Sibelius-Violinkonzert mit dem Griechen Leonidas Kavakos, der anscheinend gern leise spielt. Dirigiert hat der Chef der Chefs, Alan Gilbert.

 

Zum Streichquartett ist ebenfalls nicht viel zu sagen: Es handelt sich um ein deutsches Quartett (Signum Quartett). Sie spielten erst einen netten frühen Beethoven, dann ein paar Ultra-Kurz-Stücke in Anlehnung an Twitter (140 Noten) und dann das Werk des Vaters des Cellisten. Ich kann nicht genau sagen, was es war, aber irgendwie gefiel mir das alles nicht so. Es kam mir vor wie ein Studentenkonzert. Ich hatte keine Lust, mir in dieser Qualität Schubert anzuhören und bin nach der Pause gegangen. Der Fairness halber muss ich allerdings sagen: 1. Das ist Meckern auf sehr hohem Niveau und die haben durchaus sehr gut gespielt. 2. Dummerweise war das letzte Streichquartett, das ich gehört habe, halt besser. 3. Das Konzert fand in einer hässlichen Aula statt, weil der geplante Ort wegen ungeplanter Reparaturarbeiten unzugänglich war. 4. Das Neue Musik Stück fand ich so furchtbar, dass meine Geduld bis zur Pause schon aufgebraucht war. Demnächst spielt das Juilliard String Quartet (ich habe da ein Karten-Abonnement). Ich werde berichten.

 

Das Theater-Stück, welches ich besuchte, wurde von Bachelor-Studenten des Drama-Departments gespielt und handelte von einem Teller, den man nicht runterfallen lassen durfte, weil er stellvertretend für die Erinnerung an die Nestwärme des Zu-Hause-Wohnens stand. Drumherum war eine mäßig spannende 0-8-15-Beziehungsgeschichte mit Anti-Helden gesponnen. Dan hat sich wieder entschuldigt, dass er mich mitgenommen hat. Ich fand die Geschichte auch nicht so toll, die Schauspieler allerdings haben mir recht gut gefallen, die können ja nichts für die Durchschnittlichkeit der Texte.

 

Und schließlich das MOMA: Dort hängen "Sternennacht" von Van Gogh, Seerosen von Monet, das (unfassbar kleine!) Bild mit den zerfließenden Uhren von Dalí und noch vieles andere, was ich noch nicht gesehen habe. Ich war sehr fasziniert von der Ausdruckskraft und Schönheit der Gemälde. Es ist ein besonderes Gefühl, davor zu stehen und zu wissen, dass an diesem selben Stück Materie vor einigen Jahren oder Jahrhunderten der Erschaffer dieser Kunst gearbeitet hat. Das ist ja bei Musik und Literatur anders. Es hat mich überrascht, welch starke Gefühle und Gemütszustände Kunst auslösen kann. Vor der Sternennacht könnte ich sehr lange stehen bleiben, wenn da nicht noch hunderte andere auch stehenbleiben wollen würden. Bestimmt werde ich jetzt öfter hingehen, ich komme nämlich mit meinem Studentenausweis umsonst rein.

Nächstes Jahr

Kurz vor meinem Wettbewerb gab es übrigens noch einen Tag des Psychostresses für mich. Ich wurde per E-mail darauf hingewiesen, dass in meinem DAAD-Portal eine Nachricht [mit dem Auswahlergebnis der Stipendien-Kommission] für mich wartete. Ich traut mich nicht, nachzusehen - das zweite Jahr meines Master-Studiums hing davon ab. Nach ein paar Stunden war ich so mit den Nerven am Ende, dass ich meine liebe Freundin Eva gebeten habe, für mich nachzusehen und mir auf keinen Fall das Ergebnis zu sagen. Ich hasse Ergebnisbekanntgaben. Ich hab mich schon in der Schule immer nicht getraut, die Ex umzudrehen, die auf meinem Tisch lag. Es geht gar nicht immer so sehr um die Auswirkungen des Ergebnisses, sondern tatsächlich um den Moment des In-Erfahrung-Bringens.

Eva hat nachgeschaut und geschwiegen. Irgendwann krallte ich mich an meinem Handy fest und sagte, dass ich es jetzt wissen will und sie jetzt das Ergebnis schreiben kann. "Eva schreibt..." Die Nerven werden noch ein bisschen mehr gereizt. Dann die Nachricht:

"Erst will ich dir noch ein paar Fragen stellen." Eva!

Es kamen Fragen wie "Was bedeutet dir das Stipendium?", "Was sagt es über dich aus, ob du es bekommst oder nicht?" Und ich dachte, ach, die herzallerliebste Eva will mir das Ergebnis schonend beibringen. Ich antwortete wahrheitsgemäß und nicht besonders optimistisch. Dann schrieb sie: "Du hast es bekommen!"

 

Nein, das kann ja gar nicht sein! Wirklich? Ich konnte es nicht glauben. Wohin mit mir? Ich musste erstmal ein paar Tschaikowsky-Oktaven donnern, um mich abzureagieren. Dann habe ich gleich ein paar Leuten davon erzählt und mich bei dem einzigen Jury-Mitglied auf Facebook bedankt, von dem ich überhaupt wusste. Ich kann es jetzt noch kaum glauben, aber ich bekomme es wirklich.

Das bedeutet, dass ich mit 99%iger Wahrscheinlichkeit auch das zweite Master-Jahr in New York machen werde und hier einen Abschluss bekomme. Der DAAD bezahlt zwar nicht alle meine Kosten, aber einen Teil der groß genug ist, um meine Zuversicht über die Ergebnisse meiner liquiden Kreativität zur Finanzierung des Rests ausreichend zu stärken. An diesen Gedanken muss ich mich nun gewöhnen - noch ein Jahr New York! Mehr oder weniger zufällig habe ich noch erfahren, dass es am 7. April ein Konzert mit Stipendiaten in der Carnegie Hall geben wird. Über den nicht gewonnenen Wettbewerb bin ich somit hinweggetröstet.

Jetzt glaubt aber nicht, dass die Anne immer Glück hat. Ihr wollt gar nicht wissen, bei wie vielen Stipendien ich mich beworben habe, ohne sie zu bekommen. Ich schätze, die meisten Leute hören einfach auf, bevor sie endlich dran wären mit Glück. Also, schön weitermachen.

 

Die vergangene Woche war Spring Break, also keine Uni-Fächer, und ich habe mal wieder ein bisschen angefangen zu üben und auch angefangen, meinen sechs Wochen lang aufgestauten Schreibkram zu erledigen. Samstag und Sonntag hat die Uni geschlossen. Hurra!

 

Ich wünsche euch allen schöne Ostern und prima Wetter. Hier in New York hatten wir innerhalb von dreieinhalb Wochen -18 und dann +25 Grad. Der Frühling ist unberechenbar und die Temperatur schwankt täglich um zweistellige Celsius-Beträge. Bleibt gesund! Meine Oma wird am Sonntag 91, das muss man erstmal nachmachen.

 

Eure Anne

Moments of New York

Direkt nach meiner Ankunft aus Deutschland fand ich eine Mailbox-Nachricht auf meinem USA-Handy. Inhalt: Ich sei für keinen Kurs registriert, ob alles in Ordnung wäre bei mir? Ich bekam einen mittleren Schock. Hatte ich die Studiengebühren nicht bezahlt? Exmatrikuliert? Sonstige Probleme? Eine Rückfrage bei meinem persönlichen Advisor ergab: Falsche Uni, falscher Student. Ich bekomme dauernd Anrufe von Unbekannten auf das Handy, die Nummer muss schon von halb Amerika besessen worden sein. Offenbar auch von einem mäßig disziplinierten Studenten einer anderen Uni.

 

Hier gibt es wirklich so unglaublich viele Obdachlose, und ich fühle mich immer schlecht, wenn ich sie ignoriere. Als ich einmal nachts nach dem Üben die Uni verlies, sah ich am Ausgang übriges Fingerfood einer Veranstaltung stehen, an der ich mich gütlich tat. Auf dem Weg zur U-Bahn fand ich einen Obdachlosen an einer Hauswand sitzen und dachte, "Hopp, Anne, diesmal machst du mal das Richtige", ging zurück und brachte ihm einen Pappteller mit Essen. Er hat ihn genommen und sich bedankt. Ich hab mich nicht getraut, ihn weiter zu beobachten und hoffe, er hat sich gefreut.

 

Als ich eines anderen Abends nach Hause kam, stand ein Polizeiauto vor der Haustür. Keine Seltenheit, die stehen öfter irgendwo herum. Im Flur allerdings hörte ich ein recht beunruhigendes Geschrei im Treppenhaus und dachte, da sollte ich lieber nicht vorbeigehen. Wo die Polizei schonmal vor der Tür stand, könnte ich sie ja auch gleich reinholen. Also bin ich wieder zur Haustür zurückgegangen, als es an selbiger gerade klingelte. Die Polizei wollte rein, so ein Zufall. Ob ich sie gerufen hätte? Nein, aber bitte gehen Sie vor...

 

Tatsächlich war sogar Gary, der Herr meiner Gastfamilie, Teil des Gezankes. Inhalt: Der Bewohner unter unserer Wohnung raucht so viel Zigaretten und Gras, dass der Gestank durch die Lüftungsanlage in unseren Badezimmern wieder herauskommt, wenn die Ventilatoren nachts nicht arbeiten (war mir auch schon aufgefallen). Der wenig beneidenswerte Nachbar lies aber nicht mit sich reden, so wurde eben die Polizei gerufen. Geändert hat sich seitdem übrigens nichts. Und überhaupt riecht ganz New York nach Gras. Vielleicht sind deshalb hier alle so lustig.

 

Und noch eine Haustür-Geschichte: Als ich vor kurzem vom Waschsalon zurückkam, ging die Tür nicht auf. Sie funktioniert glaube ich magnetisch, und irgendetwas hing oder hakte. Zum Glück kam eine Minute später eine andere Bewohnerin des Hauses. Leider bekam sie die Tür auch nicht auf, hatte aber die Nummer des Hausmeisters. Der ging nicht ran. Nach einigen Minuten kam ein Junge von innen zur Tür. Der bekam die Tür auch nicht auf. Wir zogen und zerrten zu dritt - irgendwann war das Mist-Ding offen. Ich bin froh, dass mir das nicht um Mitternacht passiert ist...

 

Aus gegebenem Anlass noch ein Wort zur Sicherheit. Die Polizeipräsenz in den U-Bahnen ist einigermaßen hoch - mehr, um die Bürger zu beruhigen als um wirklich etwas auszurichten. Manchmal schauen Polizisten durch die Türen oder stehen an Eingängen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass hier gesteigerte Angst herrscht. Was soll man auch tun? Man hat keine Wahl und muss in die U-Bahn. Die Chance, durch einen Anschlag zu sterben ist sicher viel geringer, als von einem der aggressiven Taxifahrer plattgemacht zu werden. Falls es zu einem Anschlag in New York kommen sollte, tue ich meine Unversehrtheit aber sobald ich kann auf Facebook kund.

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