9 Metro-Spezial

Zur Abwechslung beginnen wir heute mal mit einem Rätsel. Mit welcher Zahl wird diese Reihe fortgesetzt?

14, 34, 42, 72, 96, 110, 116, 125, XXX.
Die Auflösung, die sicher für alle Leser überraschend ausfallen wird, gibt es später.

 

Die New Yorker U-Bahn ist eine ganz besondere Welt. Wenn man wissen will, wie die Stadt funktioniert, muss man ein bisschen Subway fahren. Hier trifft man auf die bunte Bevölkerung, denn mit Ausnahme derer, die sich jeden Tag ein Taxi oder einen Parkplatz für 16,90 $ die Stunde leisten, oder die gleich ihren eigenen Privatfahrer haben, wird sie von allen genutzt, die sich auf der Straße bewegen können und müssen.

 

Die New Yorker U-Bahn ist mit über 100 Jahren eine der ältesten und mit knapp 500 Stationen eine der größten der Welt. Jeden Tag fahren knapp 5 Millionen Fahrgäste mit. Zum Vergleich: In Berlin sind es 1,3 Millionen bei 173 Stationen, in St. Petersburg 2,8 Millionen bei nur 67 Stationen, in London 3,5 Millionen bei 270 Stationen. 

 

Ich habe bisher nur in drei Städten gewohnt, die eine U-Bahn besitzen.

Die erste war Rennes in der Bretagne, aber die kann man nicht wirklich zählen, denn es gibt nur eine Linie, die neun Kilometer lang ist.

Die zweite war natürlich Sankt Petersburg. Wenn man mal in Sankt Petersburg mit der U-Bahn gefahren ist, können einen anderer Städte U-Bahn-Stationen nur noch enttäuschen, denn viele der Stationen in St. Petersburg gleichen Palästen und Kunstwerken, und die Züge fahren so oft, dass die Anzeigetafel nicht die Wartezeit in Minuten anzeigt, sondern die Sekunden, die seit der Wegfahrt des letzten Zuges vergangen sind. Ich habe mich immer in Niedrig-Rekord-Wartezeiten unterboten, das schnellste war etwas über 30 Sekunden. Schneller geht es bestimmt aus Sicherheitsgründen nicht.

Die New Yorker U-Bahn ist im Gegensatz dazu wirklich ausgesprochen hässlich. Als ich im März zum ersten Mal damit gefahren bin, war ich richtiggehend geschockt, wie heruntergekommen, dreckig und marode sie aussieht. Außerdem macht sich sogar hier das Platzproblem bemerkbar: Die Wartestege sind oft sehr schmal, manchmal nur wenige Meter breit, und in vielen Stationen kann man mehrere Gleise überblicken wie an einem Bahnhof, während in Sankt Petersburg immer nur zwei Züge pro Gleis fuhren: Einer hin, einer zurück.

 

Aber ich will mal nicht motzen: Hier muss man wenigstens keine drei Minuten Rolltreppe fahren, bis man am Gleis ankommt (obwohl die Fußwege bisweilen weit sind), denn Rolltreppen gibt es nicht. Außerdem fährt die U-Bahn als eine der wenigen der Welt 24 Stunden am Tag, und ich muss auch nicht mit dem Bus fahren, um die nächstgelegene U-Bahn-Station zu erreichen, weil sie glücklicherweise in Manhattan dicht genug beieinander liegen. Dafür kostet eine Fahrt auch ungefähr drei- bis viermal so viel. Zu meinen St. Petersburger Studienzeiten kostete eine Fahrt 28 Rubel, was damals ungefähr 75 Cent entsprach. Eine Einzelfahrt hier kostet 2,75$, wobei man Geld sparen kann wenn man eine Karte zum Aufladen besitzt und mehr als nur eine Fahrt auflädt. Eine Monatskarte kostet 116 $. Dafür kann man nicht mal eine Woche sein Auto parken.

 

Meine tägliche Pendelei : Ich gehe jeden Tag, an dem ich in die Uni fahre, knapp drei Kilometer zu Fuß. Von der Wohnung in der 131st Street zur Station in der 135th Street, und von der Station in der 14th Street zur Uni. Das ganze natürlich auch wieder zurück. Wenn ich dazwischen noch ein bisschen laufe, kommt da gut was zusammen. Ich habe keinen Hund, aber ich fahre U-Bahn! Obwohl ich lieber neben der Uni wohnen würde, oder wenigstens neben der U-Bahn-Station, bin ich insgeheim aber ganz froh um diese Zwangsbewegung, denn den größten Teil des Tages verbringe ich natürlich im Sitzen.

Nun aber zur U-Bahn und ihren Bewohnern: Zwischen ein paar tausend Tonnen Müll, die jedes Jahr aus den Gleisen geklaubt werden (worüber man recht häufig per Durchsage informiert wird), damit sie ein paar weniger tausend Feuer dort verursachen, tummeln sich vermutlich ein paar Hunderttausend Ratten. Wenn man Glück hat, sieht man sie auch dort herumkrabbeln und kann sich so seine Wartezeit versüßen.

Es gibt angeblich 26 verschiedene U-Bahn-Linien, ich bin bisher aber erst mit einer Hand voll gefahren, hauptsächlich natürlich in Manhattan. Das System ist nicht gerade unkompliziert, und man tut gut daran, sich am Anfang ein bisschen Zeit zu nehmen, oder sich in Annes Blog über die Funktionsweise zu informieren.

 

 

Gebrauchsanweisung: Please swipe your Metro-Card

 

Zunächst einmal: Sämtliche Eingänge sind mit Drehkreuzen ausgestattet, die man passieren kann, in dem man eine mit Zeit, oder Geld aufgeladene Karte durch einen Schlitz "swiped" - schwungvoll, aber nicht zu schwungvoll, bitte auch nicht zu langsam, und vor allem richtig herum, in die richtige Richtung und an der richtigen Seite. Und natürlich auch nur dann, wenn nicht gerade jemand durch dasselbe Drehkreuz die Station verlassen will, oder es außer Betrieb ist (erkennbar am leuchtenden Stop-Schild), dann nimmt man nämlich lieber das daneben. Und bitte nicht davor stehenbleiben und den Geldbeutel suchen, um die Karte herauszufischen. Die echten New Yorker passieren die Zahlsperre, ohne stehen zu bleiben. Das bekomme ich inzwischen auch meistens hin. Kaufen und aufladen kann man die Karte an Automaten (an denen man statt PIN die Postleitzahl eingeben muss, wie ich nach Monaten dann auch kapiert hatte) oder bei menschlichen Verkäufern am Schalter.

 

Die nächste Kompliziertheit bilden die Local und Express Trains. Die hochfrequentierte Nord-Süd-Verbindung in Manhattan kann man entweder auf der grünen Linie östlich des Central Parks befahren, oder auf der roten Linie westlich davon. Allerdings fahren auf diesen Strecken insgesamt sechs Linien, nämlich Nummer 1-6. Davon sind 1,2,3 rot und fahren links rauf und runter, 4 5 und 6 sind grün und fahren rechts rauf und runter. Sie spalten sich erst da in verschiedene Richtungen auf, wo man sowieso selten hinfährt. Aber das Komplizierte kommt noch: Nicht alle Züge halten an allen Stationen. Nummer 1 und 6 sind "Local Trains", die halten überall, teilweise alle 4 Blocks (Faustregel: Für einen Block braucht man zu Fuß eine Minute), und brauchen darum auch eine Ewigkeit. Nummer 2-4 sind Express Trains, die halten nur an bestimmten Stationen, die besonders stark frequentiert werden, zum Beispiel am Times Square. Wenn man einen weiten Weg zurücklegt, kann man auch beides kombinieren: Erst mit dem Local zum nächsten Express fahren, und dann von einer Express Station wieder Local.

Falls man dafür allerdings die Fahrtrichtung ändert und zum Beispiel eine Station zurückfahren muss, wird es schon wieder kompliziert. Überhaupt sollte man schon vor dem Betreten der Unterweld wissen, ob man nach Norden oder Süden möchte, denn nicht alle Eingänge führen auch zu allen Bahngleisen. Wenn man Glück hat, steigt man die falsche Treppe runter und darf wieder raufgehen, die Straßenseite wechseln und dort wieder hinunter, denn manche Stationen haben keine unterirdische Verbindung der Gleise. Weil: Kein Platz. Oder: Kein Geld.

 

Womit wir bei der Orientierung angelangt sind: Jede Station hat mehr als einen Ausgang, meistens sind es vier (eines pro Straße an einer Kreuzung), häufig auch noch mehr. Da pro Gleis auch immer mehrer Treppen nach oben führen und man, je nachdem, wo man eingestiegen ist, auch an verschiedenen Stellen aus der Bahn aussteigt, kommt man als Unwissender oft "irgendwo" ans Tageslicht und muss sich erstmal eine Weile orientieren, wo man denn überhaupt gelandet ist. Das gilt besonders für große Stationen wie Union Square oder Times Square. Die Eingänge liegen da so weit auseinander, dass man die Umgebung nicht einmal erkennt, weil man je nach Ausgang im Park, vor einem Supermarkt oder an einer vierspurigen Straße aus dem Untergrund kommt.

Die echten New Yorker wissen natürlich genau, bis zu welchem Mülleimer sie in welcher Station laufen müssen, um an der richtigen Treppe herauszukommen, die sie zu dem Ausgang bringt, der ihrer Destination am nächsten liegt. Bei meiner Hauptnutzungslinie, die mich zur Uni bringt, weiß ich das inzwischen auch.

 

So funktioniert das also in der Theorie. In der Praxis sieht es aber nochmal ganz anders aus:

Da die Stadt leider im letzten Jahrhundert wenig davon hielt, die U-Bahn ordentlich zu pflegen, wird ständig und zu allen Tages- und Nachtzeiten gebaut und repariert. Dementsprechend hängen dauernd irgendwo Plakate aus, wann welche Linien fahren oder auch nicht, ob Local oder Express, am Wochenende, Tags oder Nachts, und auf welche Metro- oder Buslinie man ausweichen soll, wenn man bis Station X fahren möchte oder einen Aufzug braucht, der an Station Y leider gerade nicht funktioniert. Gefühlt haben höchstens ein Drittel der Stationen Aufzüge, und Rollstuhlfahrer habe ich bisher auch erst selten gesehen, nur Leute mit Fahrrädern, Koffern und Kinderwägen.

Da aber leider nicht alle Probleme, Delays, "Train Traffic ahead of us" und Investigations vorhersagbar ist, sollte man trotzdem auf die Durchsagen des Fahrers hören, die mehr oder weniger verständlich sind. Am schönsten ist es, wenn man gerade besonders knapp dran ist und dann die wunderbare Durchsage ertönt, dass der Express Train jetzt Local Stops machen wird. Auf meiner Strecke macht das ungefähr 15 Minuten zusätzliche Fahrzeit aus, womit sich die Fahrzeit fast verdoppelt.

Zur Zeit herrscht auf meiner Strecke das folgende mäßig logische System: Bis zur Station Penn Station (34th Street, hier kommt man oft an, wenn man vom Flughafen nach Manhattan fährt) fahren alle Züge so, wie sie sollen. Von da bis zur 14th Street (Höhe Union Square), wo ich aussteige, fahren die Express-Trains local und die Local-Trains express. Aber nur am Wochenende.

 

Man muss also geduldig sein. Es stimmt nämlich nicht, dass U-Bahnen nicht im Stau stehen können. Und wenn drei Stationen vor einem eine Bahn im Tunnel stecken bleibt, kommen alle zehn Züge dahinter eben leider auch nicht vom Fleck. Einmal steckte ich zwanzig Minuten zwischen zwei Stationen fest und machte mich im Geiste schon auf eine spontane Völkerwanderung durch New Yorks Eingeweide gefasst. Wirklich praktisch, dass man dort unten keinen Empfang hat, um Leuten Bescheid zu geben, die auf einen Warten. Irgendwann ging die Fahrt doch noch weiter. Also: Nicht mit voller Blase in die U-Bahn steigen! Wer weiß, wann man da wieder rauskommt!

Nun hat man es also geschafft und ist am richtigen Eingang, am richtigen Gleis in den richtigen Zug gestiegen, der in die richtige Richtung fährt. Falls man vorhat, an der Südspitze Manhattans die kostenlose Fähre nach Staten Island zu nehmen, um dort nicht von Board zu gehen, weil es nichts zu sehen gibt, sollte man sich auch noch das richtige Abteil aussuchen. Sonst kann man nämlich nicht aussteigen.

 

Zwangs-Freizeit, Zwangs-Erziehung und Überlebensstrategien

 

Auf der Fahrt kann man so manche Abenteuer erleben. Je nach Tages- oder Nachtzeit sind die Züge entweder überfüllt oder auch mal fast ganz leer. Trotzdem fiel es eines schönen Morgens einem Kameramann ein, dass er doch genau jetzt zur Rush-Hour seinen Dokumentarfilm über irgend einen unbekannten Star drehen wollte, der in der 135. Straße, irgendwo in Harlem, einsteigen sollte. (Vielleicht war er ja auch doch nicht so unbekannt. Ich habe kürzlich in der Mediathek einen Tatort gesehen, in dem eine gewisse Helene Fischer mitgespielt haben soll. Ist mir gar nicht aufgefallen, bis ich es durch Zufall irgendwo gelesen habe. Darauf kann man stolz sein, oder? Immerhin haben die Leute um mich herum aber auch eher irritiert geguckt.)

 

Wenn man oft im Halbschlaf gute zwanzig Minuten U-Bahn gefahren ist, entwickelt man irgendwann Überlebensstrategien, um einen Sitzplatz zu ergattern. Am besten steht man schon beim Halt des Zuges an einer günstigen Stelle, so dass man schnell einsteigen kann, und scannt dann mit Blitzgeschwindigkeit alle Bänke, um sich rasch irgendwo hinzuquetschen. Bitte zügig Platz nehmen, sonst landet man bei der ruckigen Anfahrt leicht auf dem Schoß des Nachbarn. Manche Schaffner scheinen einen mit dauerndem Beschleunigen und scharfem Bremsen auf Trab halten zu wollen, oder sie beabsichtigen, die Zwischenmenschlichkeit ein bisschen anzuregen. Aber wenn man Lust zum Kuscheln hat, braucht man nur um 6 p.m. die rote Linie zu benutzen, oder sich zu jeder beliebigen Tageszeit zwischen die ausladenden Hintern der Nachbarn auf die Bank zu quetschen.

Selbstverständlich kann man auch im Stehen die kostenlose, auflagestärkste New Yorker Zeitung "AM New York" lesen, in der ein bisschen was Nützliches steht und ansonsten vor allem mit entsprechenden Bildern für Schönheitsoperationen geworben wird. Dazu muss man sich einfach geschickt mit einem Arm an einer Stange einhängen, und mit der andere Hand die Zeitung, halb gefaltet, halten. Aber ich will gar nicht so tun - es gibt auch heutzutage noch Männer der alten Schule, die für Frauen aufstehen. Allerdings sterben sie langsam aus.

 

Man sollte dabei allerdings kein "Pole Hog" sein, in dem man die vom Boden bis zur Decke reichende Bazillenbrutstätte für sich beansprucht. In der U-Bahn hängen nämlich manchmal statt Werbeanzeigen ein Dutzend lustig illustrierte Anweisungen, was man tun soll oder nicht. Bitte Schwangeren und Alten Plätze anbieten. Bitte die Festhaltestange teilen. Und auch keine Zirkustänze daran veranstalten (dazu später mehr). Bitte nicht die Fingernägel schneiden und nicht essen. Bitte keine laute Musik, keine Menschentrauben vor der Tür, erst aussteigen, dann einsteigen, und nicht zwischen den Wägen aufhalten. Achja, und liebe Männer, macht doch bitte eure Beine nicht so breit, man kann sich auch platzsparend hinsetzen.

 

Wenn man sich damit abgefunden hat, dass man ungefähr sechs Stunden pro Woche in der Subway verbringt, beginnt man, sich Gedanken über eine sinnvolle Nutzung der Zeit zu machen. Es gibt schier unbegrenzte Möglichkeiten, diese Zwangsuntätigkeit in die goldenen Minuten des Tages zu verwandeln. Ein paar Vorschläge:

 

- Musik hören. Dem gehen ungefähr 50% aller U-bahn-Fahrer nach. Ich habe noch nie begriffen, wie man mit Kopfhörern herumlaufen kann. Kürzlich habe ich es einmal ausprobiert und kam mir vor wie in meinem eigenen Dokumentarfilm, wo jede Handlung mit dramatischen Klängen untermalt wird. In der U-Bahn hört man leider gar nichts mehr, weil es zu laut ist. Vielleicht gibt es deshalb keine Dynamik mehr in der Pop-Musik, damit man alles auf ein hörbares Lautstärkelevel einstellen kann.

- Auf dem Handy spielen

- Lesen (ich habe tatsächlich schon mehrere Bücher in der U-Bahn gelesen!)

- Dösen

- Leute beobachten (ich habe schon leicht erschrocken festgestellt, dass ich Deutsche immer sofort erkenne. Wenn sie den Mund aufmachen, stimmt es. Und überhaupt fallen Touristen einfach auf, ich weiß gar nicht genau, warum. Vielleicht durch die Kleidung und die irritiert suchenden Blicke.)

- Leute kennenlernen (dazu später mehr)

- Das Allerbeste: Gar nichts tun! Man verlernt das Nichtstun zunehmend. Dabei ist es so eine gesunde, kreativitätsfördernde, entspannende Sache, überhaupt nichts zu machen und das Hirn ein bisschen auszulüften.

 

5-Minuten-Abenteuer

Manchmal wird man auch von außen Unterhalten. In der U-Bahn passieren nämlich so allerhand mehr oder weniger schöne Dinge, wenn man zu den Zeiten fährt, wo sie gut besucht ist, aber die Wägen nicht überfüllt sind.Unzählige Bettler sind in ihr unterwegs (obwohl Geld erbetteln und geben natürlich verboten ist), die sich verschiedene Dinge einfallen lassen, um von den Leuten ein bisschen "Change" (Wechselgeld) zu erbitten. Da gibt es den Mann mit dem verbrannten Gesicht, dem man sein Leid ansieht, und der den Leuten trotzdem noch grausame Fotos von sich hinhält. Oder ein Tauber, der einem unleserliche Zettelchen mit Gebärdensprache aufs Knie legt. Viele erstaunlich junge Menschen, die zwischen zwei Stationen ihre kurze, traurige Lebensgeschichte erzählen und dann um Geld oder Nahrung bitten.

Eine Frau, die angeblich ein Kind zu Hause hatte, hat so herzerwärmend schön gesungen, dass ich ihr gerne etwas gegeben hätte. Leider habe ich fast nie Geld dabei, weil hier alles mit Kreditkarte funktioniert. Also bekam sie einen Schokoriegel (vom Aldi, importiert) und bedankte sich so herzlich, als hätte ich sie zum Abendessen eingeladen. Wenn man etwas gibt, sagen die Beschenkten meistens "God bless you!" Irgendwie eine ganz besonders subtile Art, das schlechte Gewissen zu verstärken.

 

Viele Menschen versuchen auch, durch Musik und Tanz auf sich aufmerksam zu machen. In den Stationen wimmelt es sowieso von Straßenmusikern, die auf allen möglichen und unmöglichen Instrumenten und Gerätschaften manchmal Musik und meistens Lärm produzieren. Da gibt es den Studenten, dem 1000 Dollar für seine Studiengebühren fehlen, das Pseudo-Wunderkind, das auf dem E-Piano herumdudelt, die obligatorischen Fiedler, Percussionisten mit Blecheimern, singende Sägen, und was das Herz sonst noch so nicht begehrt. Manche bringen ihre ganze Band mit, inklusive Verstärker und zum Verkauf stehenden CDs. Vor einigen Wochen habe ich mal das Video eines besonders kreativen Mannes verlinkt, der alle Instrumente an seinen Körper angebaut und mit Seilkonstruktionen bedient hatte. Es gibt aber auch die Frau mit der weißen Plastikblockflöte am Union Square, die kaum Ahnung hat, wie man darauf spielt, aber sich trotzdem nicht zu den tatenlosen Bettlern auf den Boden setzen möchte. Das bewundere ich sehr.

 

Und auch in den fahrenden Zügen wird man regelmäßig beschallt. Ich hatte schon mexikanische Gitarrenensemble und Bands mit Kontrabass (!) und Akkordeon. Außerdem bekommt man regelmäßig ziemlich artistische Break-Dance Tanzeinlagen zu sehen, die ganz genau auf den schmalen Platz zwischen den Füßen der Banksitzer abgestimmt sind. Da machen die Tänzer schonmal Purzelbäume um die Haltestange herum! Ich habe hin und wieder ein bisschen Sorge um meine Gesundheit, wenn jemand beim Flic-Flac seine Füße 20 Zentimeter vor meiner Nase vorbeischleudert, aber bewundernswert ist es trotzdem. Man bedenke, dass das ganze ja in einem wackelnden Zug stattfindet!

 

Ansonsten gibt es natürlich immer wieder lautstarke Prediger, denen keiner zuhören will, und alle drehen  den Kopf woanders hin oder legen sich belustigt mit ihnen an. Dann liegt mal ein Obdachloser auf den Sitzen und man hofft, dass er nur schläft und nicht tot ist, bis er sich endlich mal bewegt. (Im Englischen gibt es dafür das wunderbare Wort "awkward", das eine Mischung aus peinlich, unangenehm, verlegen und fremdschämend ist). Hin und wieder kann man auch Süßigkeiten oder andere Kleinigkeiten kaufen. Ansonsten scannt man seine Umgebung, ob jemand einem vielleicht das Smartphone aus der Hand reißen will oder eine verdächtige Tasche unter der Bank stehen lässt. Oder man schaut seinem Nachbarn dabei zu, wie er im Candy Crush verliert.

 

Zum Glück sind die awkward-Momente eher selten. Legendär sind für mich aber schon jetzt die aufgezeichneten Durchsagen eines gewissen Herrn, der einem die U-Bahn-Knigge nahebringen will. Manchmal wird es fast Philosophisch: "Courtesy is contagious. And it begins with you." (Höflichkeit ist ansteckend. Und bei dir fängt sie an.) Mein Lieblingssatz ist der beim Einfahren der U-Bahn: "Please stand away from the platform edge." Bitte stehen Sie von der Bahnsteigkante weg! 

 

Endstation

So, nach diesem Schnellkurs sollten nun alle für eine glückliche Fahrt durch Manhattan gewappnet sein. Von den Fahrten der drei Flughäfen John F. Kennedy, La Guardia und Newark nach Manhattan fange ich lieber gar nicht erst an. Da gibt es nämlich den Airtrain, Long Island Railroad, Path Train, Züge, Metrolinien, normale Taxis, Taxis mit Festpreis, Sammeltaxis auf Bestellung, Sammeltaxis ohne Bestellung, Linienbusse mit Extraticket oder das Auto, wobei man dann an die Brückenzolle denken muss. Alles klar?


Achja, die Auflösung des Rätsels: Die nächste Zahl ist 135. Da steige ich aus.

Zum Schluss gibt es noch ein paar hässliche Bilder. Zum Vergleich bitte mal bei "Google Bilder" "Metro St. Petersburg" eingeben, oder einfach HIER klicken.


Machts gut, "stay alert, and have a safe day!"



Metro-Moments

Ich sprach weiter oben von Kontakten, die man in der U-Bahn knüpfen kann. In der Tat wird man hier öfter einfach so von Fremden angesprochen, aus ganz verschiedenen Gründen. Ich habe mehrfach nette Komplimente bekommen, meistens für meinen blauen Kinder-Filzhut. Zweimal sprachen mich Leute darauf an, was für ein Buch ich denn lese. Die eine Frau wollte es wirklich wissen, weil sie gerade Bücher über New York suche (das Flatiron-Building war vorne draufgedruckt). Der andere suchte wohl eher eine Freundin, und hat sich auch durch meine Anstalten, nach kurzen, langweiligen Gesprächen weiterzulesen, nicht aus der Ruhe bringen lassen. Da musste ich doch tatsächlich erklären, dass ich keine Lust habe, mit ihm and den Strand zu gehen, weil ich ihn gar nicht kenne. Und halt auch nicht kennenlernen will. Sorry.

 

Meine Lektüre unterbrochen hat auch ein andere Sitznachbar, aber der hat es nicht gemerkt, weil er nämlich blind war. Mit ihm habe ich mich ein paar Stationen lang recht interessant unterhalten, und er erzählte mir die ganze Zeit, dass er Fertigkeiten in "Martial Arts" hatte und das sogar Unterrichtete. Wow, ein Blinder, der malt, was es nicht alles gibt. Irgendwie machte das aber nicht so viel Sinn, vor allem nicht, als er berichtete, dass er mal drei Angreifer in die Flucht geschlagen hat, in dem er ihnen den Arm, das Bein und die Rippe gebrochen hat. Allein, als Blinder. Martial Arts ist nämlich in Wirklichkeit Kampfkunst!

 

Und als ich einmal auf dem Weg zum Flughafen war und etwas verwirrt auf meine U-Bahn-Karte guckte (das muss man mal verstehen - da gibt es Linien, die sich irgendwann aufteilen und deshalb zwei verschiedene Nummern haben, und welche, die sich aufteilen, wo man aber an der Aufschrift am Zug ablesen muss, wo sie hinfahren) fragte mich mein Nachbar, wo ich denn hin will. Zufällig hatte er mal am Flughafen gearbeitet und wusste sogar die Abflugzeit meines Flugzeuges. Sachen gibts, die gibts gar nicht.

 

Vorletztes Wochenende habe ich an einem "Employment-Workshop" mit Bewerbungstraining teilgenommen, der für International Students angeboten wurde. Da lernten wir unter anderem, wie wir uns selbst in wenigen Sekunden beschreiben, was man tut, wenn man eine Visitenkarte bekommt (nämlich eine E-Mail zurückschreiben!), und andere nützliche Dinge. Zufälliger Weise sprach mich abends in der U-Bahn-Station ein Mann auf meinen blauen Hut an. Vermutlich das 20. Kompliment für meinen Hut. Wie sich herausstellte, war er Komponist, hatte noch eine einzige Visitenkarte für mich übrig und nahm mich und meine Auftritts-Termine während unserer gemeinsamen Stationen in sein Handy auf. Er möchte mal zu einem Konzert kommen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Koschka (Donnerstag, 26 November 2015 07:58)

    Wieder einmal ein spannender Bericht von dir, liebe Anne. Vielen Dank für diesen angenehmen Start in den Tag!

  • #2

    Wolfgang (Montag, 14 Dezember 2015 23:23)

    Liebe Anne,
    einige Deiner Metro-Beobachtungen sind aber nicht nur für NY typisch. Schmutzige Bahnhöfe, Rolltreppen die sich nicht bewegen, Züge, die sich ebenfalls nicht bewegen (ohne daß man erfährt, warum), posierliche graue Mäuse mit langen Schwänzen (die sich rattenschnell bewegen): all das (und vieles mehr) kann man auch in Köln erleben ... - Trotzdem: danke für Deinen Bericht. So weiß ich jetzt wenigstens, daß auch in der schönen Neuen Welt nur mit Wasser gekocht wird.