Warum hören wir Musik?

Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis. Es birgt einen wahren Schatz, und wenn jeder davon erfahren würde, wäre die Welt vielleicht eine andere. Achtung:

 

Was sagen Sie wenn ich Ihnen erzähle, dass es außer Sex noch etwas anderes gibt, das ähnlich große Glücksgefühle und tiefe Empfindungen hervorruft? Vielleicht gucken Sie jetzt etwas enttäuscht. „Na, der Schweinebraten meiner Frau!“, „Natürlich, der Ausblick von einem eben bestiegenen Berggipfel!“, „Also ohne meine Bücher wäre mein Leben ganz öde.“, „Aber ja doch, kommen Sie mal mit in den Keller, da steht meine Modelleisenbahn…“

Klar, gutes Essen steht bei mir auch sehr weit oben, Erlebnisse in der Natur, gute Gespräche, Schlafen, Lachen. Grundbedürfnisse, Menschsein.

 

Aber dann gibt es da noch eine weitere Ebene, die mich in einer ganz einzigartigen Weise berührt, und das ist die Musik. Sie trifft ohne Umwege mein empfindsames, privates Innerstes, und löst dort tiefe Empfindungen aus. Innere Wärme und Erregung, Wonne und Wohlsein, auch Unbehagen oder Trauer, manchmal Ekstase. Diese Gefühle gehören mir ganz allein, denn wenn wir wirklich nahe bei uns sind, sind wir immer zunächst allein. Natürlich können wir Gedanken und Empfindungen mit Worten und Gesten beschreiben, aber mit hineinnehmen können wir niemanden. Wenn wir diese Grenze erreichen, hilft uns oft die Kunst weiter: Gedichte, Gemälde, Formen, Tanz, Musik. Unzählige Poeten und Musikliebhaber versuchten bereits, die Ausdruckskraft von Musik griffig in Worte zu fassen. Eines der bekanntesten Zitate stammt von Victor Hugo: „Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Beethoven, dessen großes Ego kein Geheimnis ist, ging sogar noch einen Schritt weiter: „Musik ist eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.“

 

Nun sagen Sie vielleicht, ist ja alles schön und gut, wer weiß was die nimmt, das hätte ich auch mal gerne, aber wenn ich ein Klavierkonzert von Mozart höre, schlafe ich nach einer Minute ein. Ich versichere Ihnen, ich nehme nichts. Aber ich wäre wirklich interessiert an einer Studie, die sich mit dem Geisteszustand und Hormonhaushalt von Musikern beschäftigt, denn ich bin sicher, da gibt es einige spannende Dinge zu erforschen. Hin und wieder ergreift mich zum Beispiel eine regelrechte Sucht nach einem bestimmten Musikstück und lässt mich tagelang nicht los. Spätestens wenn ich mich nachts wach im Bett wälze, weil die Melodien und Harmonien sich auch nach Stunden nicht aus meinen Gehirnwindungen verabschieden wollen, wird es anstrengend. Dann fühlt es sich an wie eine Besessenheit, eine unstillbare Lust, die einem starken Verliebtheitsgefühl ähnelt. Meistens flaut dieser Zustand nach ein paar Tagen wieder ab, vor allem, wenn es ein Klavierstück ist, das ich üben kann. Solche Tage sind wahnsinnig produktiv, aber auch etwas strapaziös.

 

Zurück zum Klavierkonzert von Mozart. Zunächst einmal kann ich Sie beruhigen: Nicht jede Musik löst bei mir derartige Zustände aus (übrigens, Mark Twain sagte dazu: „Ekstatische Zustände lassen sich nicht mit Worten beschreiben, sie sind wie Musik.“). Es ist wie mit der Kulinarik: Der eine schwärmt für Schweinebraten, der andere für sämtliche Gerichte, in denen südostasiatische Fischsoße enthalten ist. Ich sage nur Koriander, weitere Erklärungen zu Geschmäckern sind wohl überflüssig.

Und ich kann Sie noch ein zweites Mal beruhigen: Meine reiche Empfindungsfähigkeit für Musik ist mir nicht angeboren. Es gibt keine himmlische Losziehung, bei der ein paar Auserwählte ein Bonusprogramm mitgeliefert bekommen, mit dem sie sich ohne Sex ´n Drugs in den Himmel befördern können. Sondern ich habe sie im Laufe meines Lebens erworben und erweitert, vertieft und verfeinert.

 

Nun kommt eine klitzekleine Gemeinheit, von der Sie aber sicher längst wissen: Vieles, was uns höchste Genüsse bringt, ist mit ein bisschen Arbeit und Zeiteinsatz verbunden. Oder, positiver ausgedrückt: Je genauer ich mich mit etwas auskenne, je besser ich in einer Tätigkeit werde, je feiner meine Sinne geschult sind, desto höher kann auch der Genuss ausfallen.

Mir berichtete mal ein Weinkenner davon, wie er einen außergewöhnlich guten und teuren Wein kostete, der auf der Skala der Weinbewertung nach Parker nahe an die volle Punktzahl kam. Er beschrieb einen sehr besonderen, intensiven Gefühlszustand, den ich nicht im Traum mit Weingenuss in Verbindung gebracht hätte. Und er ergänzte, dass ich als ungeübte Weintrinkerin vielleicht gar keinen Unterschied zwischen diesem Wein und einem Billigfläschchen bemerkt hätte, weil ich nicht geübt darin bin, das Besondere herauszuschmecken, wertzuschätzen und folglich zu genießen.

 

Natürlich gibt es viele schnellere Genüsse, das Angebot steigt stetig. Einmal durch Social Media scrollen, ein nettes Handyspiel, eine Staffel der Lieblingsserie. Ein neues Paar Schuhe, Burger und Pommes vom Drive-In, ein unverbindliches Stelldichein, eine Tafel Schokolade. Nicht falsch verstehen, ein Leben ohne Schokolade ist möglich, aber sinnlos. Und ich erliege denselben Versuchungen wie die meisten andern Menschen. Aber wenn wir überlegen, was uns kurzzeitig Spaß macht einerseits und uns langfristig Befriedigung verschafft andererseits, wird uns auffallen, dass letztere Dinge mit der dafür eingesetzten Zeit meistens noch besser werden. Freundschaften und Paarbeziehungen werden tiefer, ehrlicher, verbindlicher. Ein nach dem zwölften Versuch perfekt gelungenes Steak ist ein wahrer Grund zur Freude und schmeckt doppelt. Ein wohlgepflegter Garten sieht im zehnten Jahr anders aus als im ersten Jahr. Ein gutes Buch zu lesen macht deshalb so viel Spaß, weil wir uns nicht mehr mit dem Buchstabieren aufhalten. Selbst unser privatestes Privatleben hat sich vermutlich seit seiner Erstergründung mit zunehmenden Fertigkeiten zum Positiven verändert.  

 

Zurück zur Musik. Wie kommt man den nun in den angeblich so unvergleichlichen Genuss der Klassischen Musik? Hier eine kleine Anleitung, die auch auf andere Musikstile anwendbar ist:

 

1.      Aktiv zuhören. Je komplexer die Musik, desto mehr Beachtung braucht sie. Lauschen Sie mit ungeteilter Aufmerksamkeit! Vielschichtige Musik taugt nicht nur als Hintergrundrauschen beim Arbeiten, Autofahren oder Kaffeekränzchen. Hören Sie die Musik, wie Sie einen Film schauen, und folgen Sie der Entwicklung. Manchmal ist sie ruhig, manchmal baut sich Spannung auf, manchmal werden Erwartungen erfüllt, manchmal gibt es Überraschungen. Sie können sich ruhig entspannt zurücklehnen und die Augen schließen, aber bleiben Sie dabei.

 

2.      Mehrfach anhören. Wenn ich ein Musikstück zum ersten Mal höre, habe ich davon oft nur einen schattenhaften Eindruck. Meine Erfahrung sagt mir inzwischen, ob mir das Stück voraussichtlich später gefallen wird, aber im ersten Vorbeiziehen sehe ich noch unscharfe Bilder. Hören Sie das Stück öfter an, auch an verschiedenen Tagen und nach zwei Wochen Pause. Wenn Sie nicht gerade eines erwischt haben, das gar nicht Ihren persönlichen Geschmack trifft, wird es Ihnen immer besser gefallen, weil Sie es besser kennenlernen. Der Beweis: Alle lieben Filmmusik von bekannten Filmen. Jeder fragt nach Für Elise oder Claire de lune. Nicht, weil diese Musik so herausragend gut ist, sondern weil unser Hirn und unsere Ohren Bekanntes lieben.

 

3.      Den Stil kennenlernen und sich auf Klänge einlassen. Wenn ich in der Salzwüste Salar de Uyuni Ausschau nach saftigem Urwald halte, oder wenn ich in Südfrankreich auf Polarlichter hoffe, kann ich nur enttäuscht werden. Wer in einem Klavierkonzert von Mozart auf besondere Lyrics oder fette Bässe hofft, wird ebenfalls enttäuscht werden. Epochen und Komponisten haben ihren eigenen Stil, wie auch Autoren. Geben Sie sich eine Chance, diesen Stil zu umfassen, um das Besondere daran wertschätzen zu können und herauszufinden, ob sie den Stil mögen. Hören Sie nicht nur eines der 27 Klavierkonzerte von Mozart, sondern drei oder vier. Hören Sie nicht nur ein Nocturne von Chopin, sondern fünf oder sechs. Hören Sie nicht nur ein Präludium mit Fuge von Bach, sondern alle.

 

4.      Ins Konzert gehen. Hier kommt ein persönliches Geständnis: Ich höre fast nie Musik. Es mag unglaublich klingen, aber so ist es. Ich kann „Dosenmusik“ nur wenig abgewinnen. Im Konzert entsteht die Musik live vor meinen Ohren, ich spüre den Schalldruck des Orchesters auf der Brust, ich bin Teil der knisternden Spannung im Saal, ich nehme wahr, wie Musiker und Publikum in stummen, aber lebhaften Austausch treten. Sie werden erleben, wie magisch es ist, einem oft auf Tonträger gehörten Stück zum ersten Mal live im Konzert zu lauschen.

 

Es gibt noch einen fünften Punkt, der im übertragenen Sinne einiges mit Kuchenessen zu tun hat. Er ist so schön und wichtig, dass ich ihm einen eigenen Artikel widmen werde. Bis es soweit ist, können Sie ja schon einmal mit dem Musikhören anfangen. Hier eine klitzekleine Empfehlungsliste an Klaviermusik:

 

·        Aus dem Barock Johann Sebastian Bach: Aus dem Wohltemperiertes Klavier Band 1 mit 24 Präludien und Fugen: C-Dur (Das Präludium kennen Sie!), Cis-Dur, d-moll und e-moll.

Diese Musik schwingt wie ein Tanz, swingt wie Jazz und räumt das Gehirn auf wie kaum eine andere. Sie ist thematisch genial und mathematisch noch genialer.

 

·        Aus der Klassik Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert C-Dur KV 467 (den 2. Satz kennen Sie!), A-Dur KV 488, und c-moll KV 491.

Mozarts Musik klingt wie der schönste Tag einer glücklichen Kindheit. Sie ist so fein, zart und innig in Freud und Leid, dass es manchmal kaum auszuhalten ist.  

 

·        Aus der Romantik Frédéric Chopin: Ballade Nr. 1 in g-moll und das Nocturne op. 9 Nr. 2 (kennen Sie!)

Chopin komponierte fast nur für das Klavier. Seine romantischen Stücke singen und klagen und sprühen manchmal vor Ausgelassenheit, und oft münden sie in einen virtuosen und leidenschaftlichen Höhepunkt.

 

·        Aus dem Impressionismus Maurice Ravel: „Une barque sur l’océan“ und „Jeux d’eau“ (Ravel ist der mit dem Bolero, den kennen Sie!)

Ravel stellt im ersten Stück musikalisch dar, wie ein kleines Boot auf einem Ozean schaukelt. Man sieht die Sonne im Wasser glitzern, hört den Wind, der zum Sturm wird, und am Ende schwimmt das Bötchen im ruhigen Wasser davon.

Das zweite Stück mit dem Titel „Wasserspiele“ ist selbsterklärend.

 

·        Aus der Klassischen Moderne Sergej Prokofiev: „Suggestion Diabolique“ und Klaviersonate Nr. 3 in a-moll (Prokofiev ist der mit „Peter und der Wolf“.)

Hier werden die Harmonien etwas fremder und wilder. Die Musik ist rhythmisch und perkussiv, und den Titel „Teuflische Einflüsterung“ kann man gut nachempfinden. Die dritte Klaviersonate hat nur einen Satz und durchläuft sehr abwechslungsreiche Stimmungen.

 

·        Aus der Neuen Musik Toru Takemitsu: Rain Tree Sketch I und Rain Tree Sketch II

Hier verlassen wir die tonalen Bezüge, an die unsere Ohren gewöhnt sind. Dennoch kann man sich bei diesen Klängen wunderbar vorstellen, wie Wasser von einem nassen Baum zu Boden tropft.

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